Eine Erzählung von Faquarl
1. Rückkehr
Ich schlage meine Augen auf. Sie sind trocken und ich sehe nur milchig-verschwommene Umrisse. Sie offen zu halten kostet mich Mühe, die ich nicht aufzubringen vermag. Ich fühle das Leid, den Schmerz die Pein. Es hallt nach durch mein gesamtes Wesen, durch Körper und Geist, versucht von außen in mich einzudringen und gleichzeitig von innen heraus seine Hülle zu sprengen. Nicht zu lokalisierende Höllenqualen als dumpfe Erinnerung. Als hätte man mich einer unsagbar grausamen Folter unter starker Betäubung unterzogen. Als sich die Möglichkeit bot, ergriff ich sie und entschied mich diesen Weg zu gehen. Mein Wille zurückzukehren war stark. Es war kein Abwägen, kein wohl überlegter Schritt an einer Gabelung mit zwei ordentlich beschrifteten Wegweisern. Es war eine Entscheidung, welche ich nie bewusst getroffen habe, sondern die jederzeit Teil von mir war. Was folgte waren Qualen. Qualen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und welche jeden künftigen derartigen Entschluss in Frage stellen. Erneut schlage ich meine Augen auf. Mein Blick ist klar, meine Gedanken jedoch weiterhin trübe. Das erste, was ich wahrnehme ist eine Schliere in meinem Auge, die sich langsam von links-oben nach rechts-unten bewegt. Ich verfolge sie, doch sie entwischt mir. Plötzlich spüre ich einen Strom von Energie meinen Körper fluten. Die magische Welle spült den dichten Nebel hinfort, welcher meinen Geist lähmte. Ich spüre eine kalte Berührung an meinem Arm, höre meinen eigenen, rasselnden Atem und dumpfe Stimmen. Sie nennen meinen Namen! Keine zwei Fuß von meiner Nasenspitze entfernt erkenne ich das blasse Gesicht einer Frau. Sie ist in dunkle Kleidung gehüllt, was den Kontrast zu ihrer fahlen Haut noch deutlicher werden lässt. Über mich gebeugt taxiert sie meine frisch vernähte Brust.
Noch bevor ich mir die Frage stellen kann, wen ich da vor mir sehe, drehe ich mich unwillkürlich zur Seite und würge klumpig-schwarzes Blut hervor. Jeder Atemzug fällt mir schwer, als würde ein Riese auf meiner Brust stehen. Der Schmerz in meinen Gliedern kämpf einen unerbittlichen Kampf um meine Aufmerksamkeit gegen die Qualen in meinen Erinnerungen. Ich glaube alles ausgespien zu haben, was mein Magen hergibt und hebe meinen Kopf vorsichtig von der eisigen, blutverschmierten Metalloberfläche. Was ich sehe verschafft Linderung: Die vertrauten Gesichter meiner Freunde. Eskel und Mareen, Moraven und auch Grunda beobachten meine unbeholfenen Atemversuche mit einer Mischung aus freudiger Erregung und ängstlicher Besorgnis. In diesem Moment wird mir bewusst, dass etwas fehlt. Ich spüre sie nicht, spüre nicht den Strom ihrer Gefühle, nicht die Verbindung unserer beiden Existenzen. Shae ist nicht hier! Mit der Hilfe von Eskel und Mareen gelingt es mir mich aufzusetzen. Die Frau vor mir mustert mich noch immer mit einem Interesse, welches man einem merkwürdigen, aber letztlich unnützen Gegenstand entgegenbringt. Ich verfolge jede ihrer geschmeidigen Bewegungen und mir wird gewahr, dass sie es gewesen sein muss, welche den Zauber wirkte, der mich zurück ins Leben brachte. Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Plötzlich macht sie einen Schritt zurück und spricht mit heiser-zischender Stimme: „Grüßt meinen Geliebten.“ Noch bevor die letzte Silbe ihre Lippen verlassen hat, verschmilzt sie mit den sie umgebenden Schatten und ist verschwunden.
Zu meiner Linken erkenne ich die Schemen eines Sakristan und eines Ostiarius, welche im Halbdunkel das Geschehen verfolgen. Erschrocken will ich vor meinen Entführern zurückweichen, doch meine Muskeln versagen mir den Dienst. Dann tritt eine weitere Gestalt hervor, doch noch bevor ich sie in Gänze wahrnehme, fällt mein Blick auf eine mir vertraute schlanke Klinge. Wie von einer unsichtbaren Kraft gesteuert klettere ich von dem Operationstisch auf meine wackligen Beine und taumle unbeholfen darauf zu. Allmählich gleitet mein Blick an der Klinge entlang. Sie steckt in einem von dunkelgrauer Haut überspannten Schädel. Wo ein Ohr hätte sein sollen klafft auf einer Seite ein Loch, auf der anderen ragen merkwürdig geschlungene Organe heraus. Mein Blick wandert weiter über den entstellten Torso die vielen Gliedmaßen entlang, welche einmal anderen Kreaturen gehörten. Wenige Schritte vor dem Interlokutor komme ich zum Stehen. Ich stolpere rückwärts, weg von meinem Peiniger und weg von meinem Wakizashi in seinem Schädel. Später wollte Moraven mir erklären, dass das Schwert verflucht sei. Eine Verzauberung hätte all die Jahre, welche ich die Klinge an meinem Gürtel trug, von mir Besitz ergriffen. Sicherlich meinte er es gut und wollte mich angesichts dieses schweren Verlustes besänftigen. Wäre ich bei Verstand und Kräften gewesen, so hätte ich zurückgefordert, was mein Eigen ist.
Grigoris Schergen, welche mich an diesen Ort entführten und mir mein Herz entnahmen, scheinen keine Bedrohung darzustellen. Ab und an wechseln meine Retter ein Wort mit ihnen und während Grunda sich um meine Verletzungen kümmert und Moraven mir meine Kleidung und Habseligkeiten bringt, scheint der Interlokutor Eskel zu etwas drängen zu wollen. Ich kann nur zusammenhangslose Gesprächsfetzen aufschnappen: „Ihr habt den ersten Schritt gemacht, nun seid Ihr ein Schattenwesen.“, „Zai und ihr Geliebter haben Fähigkeiten erlangt, welche Euer Vorstellungsvermögen übersteigen.“ und „Schließt die Transformation ab.“ Eskel zeigt sich interessiert an den Worten des Interlokutors und stellt seinerseits einige Fragen, doch die Antworten missfallen ihm offensichtlich. Als ich mich einigermaßen erholt und meine Lage einigermaßen erfasst habe, beschließen meine Freunde diesen Ort hinter sich zu lassen. Zu meiner Überraschung nehmen sie die Leiche einer ausgemergelten weiblichen Kreatur mit. Ihre rankenartigen Klauen schleifen über den glatten Steinboden. In ihrer Brust klafft ein Loch. Eine Wunde, welcher meiner gleicht. Ich traue mich nicht sie genauer zu untersuchen. Man scheint ihr Ähnliches angetan zu haben. Moraven richtet sich noch einmal an den Interlokutor und erklärt eine gemeinsame Vereinbarung für erfüllt. Dieser scheint die Einschätzung des Fürsten zu teilen und fügt hinzu, während er uns mustert: „Ihr seid ungewöhnlich. Insbesondere wenn man bedenkt, dass ihr von der Materiellen Ebene stammt und dort weit weniger eindrucksvolle Kreaturen beheimatet sind.“
Noch während wir die eisigen, mit Ketten behangenen Hallen durchschreiten, versuchen mich meine Freunde über die Ereignisse der letzten Tage aufzuklären. Sie erzählen unzusammenhängende Geschichten von einer Reise durch einen Engelsschlund, von Dispater-Münzen und Pakten mit Teufeln und Kytonen, von einer Flucht auf dem Rücken eines Drachen und einer Reise auf dem Styx, von einem sonderbaren, sich in Selbstgespräche verwickelndes Mädchen, sowie einer verstörenden Begegnung mit einer Kunstsammlerin. Doch die Satzfetzen ergeben keinen Sinn und das Zuhören fällt mir schwer. Ich versuche mich zu konzentrieren während ich meinem geschwächten Körper die nötige Kraft abringe, um die steinernen Stufen zu erklimmen. Enthusiastisch schildert Magni eine Geschichte und stolpert dabei fast über seine eigene Zunge. „Finnvarra hat mich fallen gelassen und ich bin im Sturzflug durch Heerscharen von Teufeln gerast. Ich hatte nur ein Ziel: Den Rücken Vahlxefesh’zars. Das ist eine Drachenfrau.“ Der Lichtzauber, welcher Magni umgibt erhellt in diesen Augenblicken eine riesige Statue. Ein Mann aus dessen Rücken freigelegte, leuchtend rote Blutgefäße wie Flügel wachsen. Die blasse Haut ist an vielen Stellen nicht vorhanden und zeigt die inneren Organe. Ich erkenne was ich dort vor mir habe und bleibe unwillkürlich stehen. Magni scheint dies jedoch nicht zu bemerken. Ohne Unterbrechung fährt er fort. „Sie hat eine Bibliothek hier in Dis musst du wissen. Und sie hat uns mehrfach aus der Patsche geholfen. Ohne sie hätten wir es wohl nicht geschafft. Jedenfalls stürze ich auf sie zu und -“ „Grigori“, stammele ich. Nun bleiben sie alle stehen und blicken mich fragend an. „Ihr habt nichts von Grigori erzählt.“ Eine dumpfe Vorahnung beschleicht mich. „Was soll mit ihm sein?“, will Grunda wissen. Bestürzt blicke ich in fragende Gesichter. „Grigori steckt hinter alldem. Er war es, der mich entführt hat. Er ist nicht, wer er vorgab zu sein. Grigori ist ein Kyton-Apostel.“
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Jegliche Farbe ist aus Grundas Gesicht gewichen. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Leise spricht sie zu sich selbst. „Das Antlitz Abadars wird beschmutz. Andeutungen. Hinweise. Immer und immer wieder.“ Sie schlägt die Lieder auf, verdreht die Augen und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Im Wahn setzt sie ihr Selbstgespräch immer lauter werdend fort. Mehrfach überschlägt sich ihre Stimme. „Die Morde in Silberhalle, Sven, Gerlinde, Juri und Svenja, der Knochenteufel, all die Vermissten. Jahrelang, vor meinen eigenen Augen. Und ich habe ihm gedient. Ihm gedient! Ich habe versagt!“ Sie stößt einen markerschütternden Schrei aus, der von den nackten Wänden wiederhallt und einige umherschwirrende Auguren in die Flucht schlägt. Kraftlos bricht sie in sich zusammen.
Sicher in der Bibliothek angekommen werde ich mit der Drachendame Vahlxefesh’zar bekannt gemacht. Ich finde einige Worte des Dankes, ohne genau zu wissen welche Rolle sie in den letzten Tagen spielte. Unter anderen Umständen hätte ich Tage, Wochen oder gar Monate die endlosen Bücherreihen studieren können, doch vage Andeutungen meiner Freunde bereiten mir Sorgen. Mina ist hier, doch wie ist sie an diesen Ort gekommen? Wie geht es ihr? Was ist geschehen? Niemand scheint in der Lage in Worte fassen zu können, was ihr zugestoßen ist. Ich eile in ihre Kammer. Zwei Betten stehen dort und in der Ecke brennt ein Kamin. Ich erhasche den Blick auf ein Mädchen von zehn oder zwölf Jahren, schenke ihr keine weitere Beachtung und blicke in die glasigen Augen meiner Mina. Man hat ihr ein helles Baumwollhemd übergezogen, doch sofort erblicke ich die Verletzungen darunter. Ihr rechter Arm zuckt, als ich sie umarme. Leise höre ich sie meinen Namen flüstern, aber ihr Blick geht durch mich hindurch. „Mina?“ Keine Reaktion. Ein Stich, schärfer als jeder Dolch, fährt mir in die Magengrube. Meine Augen werden feucht. Zitternd hebe ich das Hemd an und lasse es sofort wieder fallen, als ich die schrecklichen Narben darunter erblicke. Immer und immer wieder umarme ich meine Geliebte Mina, meine Frau, doch sie scheint nicht an diesem Ort zu sein. Vor mir ist nur ihre kaum wiederzuerkennende geschundene, blasse Hülle, aber nicht sie. „Ich bin mir sicher, dass wir in Silberhalle oder Neu Stetven jemanden finden, der etwas für sie tun kann.“ Ich habe Moraven nicht kommen hören, aber nun legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Sie lebt und wird wieder zu Kräften kommen.“ „Wieso Mina?“, murmle ich. „Wieso hatte es diese Kunstsammlerin, diese Ovide, auf Mina abgesehen. Und weshalb wollte sie ausgerechnet mein Herz?“ Erst meine ich, dass Moraven darauf ebenfalls keine Antwort hat, doch dann sagt er. „Pakalchi nähren sich von scheiternden Beziehungen. Sie genießen es die Bande, welche Personen verbindet, zerreißen zu sehen. Sie wissen, dass die gebrochenen und orientierungslosen Sterblichen empfänglich sind für den Einfluss des Bösen. Zwei Liebende am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht zu entführen und für immer zu entzweien muss für sie eine geradezu verzückende Vorstellung gewesen sein.“ Nach einigen Minuten des Schweigens ergreift er erneut das Wort. „Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.“ Er nimmt mich am Arm und führt mich zu dem Bett in welchem das Mädchen liegt und neugierig die eigenen Hände betrachtet. „Sie ist eure Tochter.“
Wir müssen zurück nach Narlgaard reisen. Was mag Grigori in der Zwischenzeit bereits angerichtet haben? Vahlxefesh’zar erhält als Dank für ihre bedingungslose Unterstützung einen besonders wertvoll anmutenden Schatz aus Ovides Sammlung und offenbar auch den Leichnam der Pakalchi. Moraven beäugt sie misstrauisch, da sie den Grund für ihr absonderliches Interesse nicht preisgibt. Doch uns bleibt keine Zeit über die Motive der Hüterin der Bibliothek nachzudenken; es ist an der Zeit die Hölle hinter uns zu lassen. Auch Nusea, die junge Frau, welche meinen Freunden auf dem Styx begegnet ist und ihren Dillion nicht retten konnte, hat sich entschlossen mit uns zu reisen. Nach einem emotionalen Abschied holt Frau Schwarzschwan einen gegabelten Metallstab hervor und wirkt den Zauber, der uns wieder zurück auf die Materielle Ebene bringt.
Um uns herum ist dichter Wald. Ich atme tief ein und höre auch alle anderen freudig nach Luft schnappen. Luft! Nie hat sie so gut gerochen, so gut geschmeckt, so wohltuend meine Lungen gefüllt. Moraven lässt sich ins Laub fallen und beginnt wie ein Verrückter zu Lachen. Eskel zerreibt dunkle, torfige Erde zwischen seinen Fingern und ein Lächeln umspielt seine Lippen. Die Nachmittagssonne bricht hie und da durch die Baumkronen. Ich höre die Stimmen von Vögeln und die Rufe anderer Tiere, welche wir mit unserem abrupten Auftauchen verschreckt haben. Ich versuche mir den Ort einzuprägen. Die Anordnung der Buchen und Eschen, die nahegelegene kleine Lichtung umgeben von Ulmen und der ausgetrocknete Bachlauf. Als ich meine diesen Flecken ausreichend studiert zu haben teleportiere ich mich mit Moraven, Magni und Grunda in meine ehemaligen Gemächer. Sofort spüre ich sie. „Shae!“, rufe ich in Gedanken. Mein Herz macht einen Satz und unsere gemeinsame Freude durchflutet mich von Kopf bis Fuß. Bis sie uns gefunden hat bin ich wieder zurück. Erneut wirke ich den Zauber und stehe wieder im Wald. Eskel, Mareen, Nusea und ich bilden einen Kreis und im nächsten Moment stehen wir alle in die Hirschfeste. Verwundert muss ich zusehen wie Magni Grunda mit eisernem Griff festhält und sie anbrüllt. Offenkundig war sie soeben im Begriff geradewegs zum Tempel zu stürmen. „Wo ist Moraven?“ Ich versuche mir Gehör zu verschaffen, denn ich kann den Fürsten nirgends erblicken. Eskel bewahrt einen kühlen Kopf und gibt einen Schlachtplan vor. Durch Unsichtbarkeitszaubern verborgen, machen wir uns auf den Weg zum Thronsaal, wo wir den Fürsten vermuten. Dort stoßen wir jedoch nicht auf Moraven, sondern finden Kevil in ein Gespräch mit Svetlana und Kesten vertieft. Die Ratsmitglieder und alle anderen Anwesenden sind von unserer plötzlichen Rückkehr überrascht und empfangen uns freudig. Wir speisen sie mit einsilbigen Antworten ab und versuchen umgehend in Erfahrung zu bringen, was Grigori in der Zwischenzeit angerichtet hat. Offenbar versteht Kevil unsere Sorge nicht. „Vater Grigori? Der Hohepriester hat mir nach Eurer Abreise mit seinem Rat beigestanden. Seit alle hohen Gäste abgereist sind, habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ „Wo ist er in diesem Augenblick?“, verlange ich zu wissen, doch Kevil schüttelt nur mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Das letzte Mal habe ich vor zwei Tagen mit ihm gesprochen.“ Mittlerweile ist auch Shae eingetroffen und rauscht mir ungebremst entgegen. Nach einer innigen Begrüßung teilt auch sie mir mit, dass es keine Unruhen gegeben hat. Mit einem Krachen fliegt die Tür auf, Benedikt Tropki eilt in den Saal und verkündet mit kräftiger Stimme. „Der Fürst ist zurückgekehrt!“ Bevor er von unserer Anwesenheit Notiz nimmt stürmen wir durch die offene Tür hinaus ins Freie.
Von überall her ist die Neuigkeit zu hören: „Der Fürst! Der Fürst ist zurück!“ Wir versuchen jene zum Schweigen zu bringen, welche unsere Rückkehr lobpreisen und damit unser Vorhaben Grigori in die Finger zu bekommen gefährden, doch das Unterfangen ist vergebens. Die Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Burg. Dann sehe ich ihn. Moraven steht auf seinem Balkon zum Innenhof der Hirschfeste und scheint allmählich zu realisieren, was er angerichtet hat. Unsere Blicke treffen sich und in diesem Moment ist ein entferntes Donnern zu hören. Berstender Stein gefolgt von panischen Schreien. Von einem Augenblick auf den nächsten herrscht ein unübersichtliches Treiben im Hof. Wir eilen durch das Burgtor und müssen mitansehen wie die gigantische Wächterstatue, welche Grigori einst als prächtiges Geschenk nach Narlgaard brachte, ein Haus in Schutt und Asche legt. Kevil und ich schnappen uns einige Ratsmitglieder und gemeinsam teleportieren wir uns ins Zentrum der Stadt, den Wächter aufzuhalten.
Im Innern der Statue vermute ich Alexander Kruskow, den Wächterpiloten in Grigoris Diensten. Er steuert das gigantische Konstrukt, aber wenn es mir gelingt die magische Verbindung zu kappen, dann ist diesem Spuk ein schnelles Ende bereitet. Jedoch zeigen weder meine noch Kevils Bannzauber Wirkung. Unterdessen hat sich Magni dem Steinkoloss in den Weg gestellt. Der scheint davon erst Notiz zu nehmen, als der Adamanthammer mit einem gewaltigen Hieb große Brocken aus seinem Bein schlägt. Die Kraft und der Mut des Zwergen sind eindrucksvoll, doch das Ergebnis bleibt ernüchternd. Mit Schrecken bemerke ich, dass auch Moraven auf den Wächter losgeht. Was meint der Fürst ausrichten zu können? Die Statue fährt herum und der gigantische Zweihänder schneidet in einem großen Bogen durch die Luft. Mit einem Schrei rammt Mareen ihre Schulter in die Flanke des Fürsten und stößt ihn zur Seite. Sie kommt dabei keinen Augenblick zu früh. Einen Wimpernschlag später hätte der Stahl nicht viel von Moraven übriggelassen. Zeitgleich nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Eskel sich im Rücken des Wächters in die Lüfte erhebt. Zielsicher steuert er auf das vergitterte Fenster zu, hinter welchem sich der Wächterpilot befindet. Er stiehlt sich geschickt in den Schatten des Ungetüms und verschwindet mit einem Schattenschritt in seinem Innern. Der Wächter holt zu einem weiteren Hieb gegen Mareen aus, als er plötzlich inmitten der Bewegung erstarrt, aus dem Gleichgewicht gerät und einen Flügel des Tempels mit ohrenbetäubendem Donnern unter sich begräbt.
Wo ist Grigori? Uns bleibt keine Zeit das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Hastig klettere ich über die Trümmer ins Innere des Tempels, springe die Stufen hinab und eile den Gang entlang. Die Tür mit dem großen goldenen Schlüssel steht offen, doch als ich schlitternd in Grigoris Gemächern zum Stehen komme, ist nichts von dem falschen Priester zu sehen. Er scheint sich mit all seinen Habseligkeiten aus dem Staub gemacht zu haben. Nur Grunda läuft mit hochrotem Kopf umher und stößt Flüche aus, welche ich niemals aus ihrem Mund erwartet hätte. Plötzlich dreht sie sich mit einem irren Funkeln in den Augen um und stürmt brüllend mit gezücktem Rapier aus der Kammer. „Wo ist dieser verlogene Handlanger? Wo ist Jeremias?“ Anstatt ihr blindlings hinterher zu eilen, nehme ich Grigoris Gemächer unter die Lupe und bemerke eine nachschwingende Beschwörungsaura. Grigori muss vor wenigen Minuten mittels eines Teleportationszaubers geflohen sein. Was hat sich Moraven dabei gedacht einfach so, mir nichts, dir nichts aus der Festung zu spazieren? Der Raum liegt da, wie ich ihn in Erinnerung habe. Der Mahagonitisch, die Wandbehänge und die grässliche Fratze, ein Abbild Vevelors, des gebrochenen Traums, wie ich nun erkenne. Darunter das mit Blut gefüllte Becken. Als nach und nach auch Mareen, Moraven, Magni und Eskel eintreffen sind sie, meinen Erzählungen zum Trotz, erschrocken von dem Anblick, der sich ihnen bietet. Vor unseren Augen verwandelt sich Mareen und zieht geräuschvoll die abgestandene Luft durch ihre Nüstern. „Menschenblut, wenige Tage alt“, stellt sie nüchtern fest, den Kopf über das Becken gebeugt. Ich hole eine Rolle Pergament hervor und tauche meinen Finger in das Becken. In dicken Tropfen benetzt das Blut das leere Blatt und sofort bilden sich Worte, welche uns Auskunft über die bemitleidenswerte Person geben, dessen Blut hier vergossen wurde. Es handelt sich um Sören, einen vierzehnjährigen Jungen aus Narlgaard, welcher bereits einige Tage vor der Hochzeit vergeblich gesucht wurde. Vor zwei Tagen hat man ihn an diesem Ort rituell ermordet. Folter und Verstümmelungen – das übliche Prozedere der Kytone. Vermutlich wurden seine Gliedmaßen verwendet, um weitere dieser Scheusale zu erschaffen. Grunda kann Jeremias nirgends auffinden, vermutlich hat er sich gemeinsam mit Grigori aus dem Staub gemacht. Grigoris zweiten Handlanger, den weißhaarigen Wächterpiloten Alexander Kruskow, finden wir mit aufgeschlitztem Hals auf den Stufen des Tempels vor, wo Eskel ihn zurückgelassen hat. Wir inspizieren das Ausmaß der Zerstörung. Die Schäden halten sich in Grenzen. Nur einige an den Marktplatz angrenzende Gebäude sind stark beschädigt und der Tempel ist zur Hälfte eingestürzt. In den kommenden Stunden suchen wir mit vereinten Kräften unter den Trümmern nach Verschütteten, Verwundeten und Toten. Glücklicherweise haben sich die meisten in Sicherheit bringen können und nur wenige sind dem Wächter zum Opfer gefallen. Doch wer mag sich ausmalen was geschehen wäre, wenn Eskel Alexander Kruskow nicht hätte stoppen können.
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In den Tagen nach unserer Rückkehr aus Dis ist an Erholung, an ein Aufatmen, an ein in sich gehen nicht zu denken. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Der Leichtsinn Moravens verhalf Grigori zur Flucht, nur mit Mühe und Not konnte verhindert werden, dass der Wächterpilot ganz Narlgaard in Schutt und Asche legte und die Hälfte der Mitglieder des Hohen Rates ist nicht bei Sinnen. Gedächtnislos, orientierungslos, traumatisiert. Doch zu welcher Hälfte gehöre ich? Mit Erschrecken muss ich feststellen, dass ich nicht mehr der bin, der ich vor wenigen Tagen noch war. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und bin daher dieser Tag meiner Kräfte beraubt. Ich habe meinen Geist nicht unter Kontrolle, schreckliche Bilder holen mich ein und mein morgendliches Ritual schlägt regelmäßig fehl. Dabei bin ich in diesen Tagen mehr denn je darauf angewiesen. Meine traumatisierte Mina und unsere Tochter brauchen meine Aufmerksamkeit. Niemand kann mir sagen was sie benötigen. Wenn ich nicht weiterweiß, frage ich meine treuesten Freunde um Rat, doch all die Bücher lassen meine Fragen unbeantwortet. Nun haben wir nicht einmal mehr einen Hohepriester, welchen ich aufsuchen könnte. Das Fürstentum droht in Chaos zu versinken. Auch hier werde ich an allen Ecken und Enden gebraucht. Nicht zuletzt brauche ich Zeit zum Nachdenken, Zeit, um die Ereignisse der vergangenen Tage zu verarbeiten, Zeit für mich. So versuche ich zu verdrängen, was nicht verdrängt werden kann, um meinen Verpflichtungen nachzukommen.
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2. Teufelsbeschwörung
Flackernde Fackeln erleuchten die kuppelförmige Halle. Silberpulver zeichnet ein perfektes Pentagramm auf den Steinfußboden. Unzählige Stunden hat mich der Bannkreis gekostet. Nicht die kleinste Lücke darf er aufweisen. Die beschworenen Kreaturen können jeden noch so winzigen Fehler nutzen, um ihm zu entfliehen. In den Schweißperlen auf Kevils Stirn spiegelt sich der Glanz der Flammen. Auch meine Hände zittern, was mich nur noch nervöser macht. Trotzdem beginne ich das Ritual. Unzählige Male habe ich die Worte gesprochen, immer und immer wieder die Bewegungen geformt. Doch noch nie habe ich die magische Energie freigesetzt. Jetzt ist es soweit.
Minuten vergehen. Das unrhythmische Wippen von Kevils Fuß trägt nicht zu meiner Entspannung bei. Ich spüre seine Aufregung. Er war es, der das Vorhaben vorantrieb. Es war nur eine Idee, einige sorglos ausgesprochene Worte, ein Einfall, der sofort wieder in Vergessenheit hätte geraten sollen. Wenn der Hexenmeister nicht gewesen wäre. Und nun stehen wir hier und ich spreche die abschließenden Worte der Formel. Dann vollende ich die magische Falle hastig mit einem Dimensionsanker. Meine Hände verharren in der Luft und für einen Augenblick meine ich einen Fehler gemacht zu haben. Dann flimmert die Luft für den Bruchteil einer Sekunde und vor uns schwebt ein kleiner Schwarmteufel.
Von Kopf bis Fuß misst er keinen halben Meter, aber das doppelte Paar Schwingen hat eine beträchtliche Spannweite. Die sehnigen Arme und Beine enden in vogelartigen Klauen und aufgrund des langen, spitz zulaufenden Unterkiefers gleicht das Gesicht einer höhnisch grinsenden Fratze. Hinter mir höre ich ein Fauchen. Shae scheint der Anblick unseres Gastes nicht zu behagen. Hektisch flattert er in seinem Gefängnis umher und schaut sich gehetzt um. Es dauert nicht lange bis er die Situation erfasst hat. Er wirkt einen Zauber, welcher ihm sein magisches Gefängnis offenbart. „Seid gegrüßt.“ Zwar ist der Teufel mein Gefangener, aber ich habe mich dazu entschlossen ihm gegenüber freundlich aufzutreten. Kevils Zungen-Zauber ermöglicht es uns die klackenden Laute nachzuahmen, welche diese Kreaturen als ihre Sprache bezeichnen. Als der Gaav landet, kratzen seine Krallen mit einem hässlichen Geräusch über den Stein. Mit beiden Klauen umklammert der Wicht seinen Speer, deutet damit auf mich und kreischt nervös: „Was willst du von mir?“ Ich spanne meine Muskeln an, richte mich zu meiner vollen Größe auf. „Wir haben euch herbeigerufen, um euch eine Aufgabe zu übertragen.“ „Sie hatten Recht, so fängt es immer an.“ Angesichts der Unterbrechung verengen sich meine Augen. Erst nach einem Moment der Stille fahre ich fort. „Ihr sollt Informationen über eine Person beschaffen, welche unter dem Namen »Vater Grigori« bekannt ist. Mit schnellen Handbewegungen erschaffe ich Trugbilder seiner Person. Eines zeigt ihn mit seiner goldenen Maske, das andere offenbart sein wahres Antlitz. Aus dem Augenwinkel merke ich, wie Kevil zusammenzuckt. „Hässlich!“, knurrt der kleine Teufel, aber ich übergehe seinen zutreffenden Kommentar. „Zu allererst müsst ihr ihn aufspüren. Dann werdet ihr ihn beobachten und euch merken, an welchen Orten er sich aufhält und mit welchen Kreaturen er sich trifft. Dabei dürft ihr nicht entdeckt werden und es ist euch untersagt andere Kreaturen von eurem Auftrag und euren Auftraggebern zu berichten.“ Während ich ihm den Befehl erteile grinst er und streckt die Brust aus. „Ihr … Euch …“, murmelt er stolz und lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen. „Das gefällt mir.“ Der Pluralis Majestatis scheint dem Gaav zu imponieren. „Wie soll ich diesen Vater Grigori finden?“ „Grigori verkehrt mit Kytonen. Sucht die Zitadelle der gebrochenen Ketten in Dis auf. Am unteren Ende des schwebenden Felsens befindet sich der Eingang zum Tempel des Vevelor. Wir vermuten, dass er sich dort aufhält.“ Ich lasse die Worte auf ihn wirken und versuche abzuschätzen, ob er seinen Befehl verstanden hat. Diese Gaav sind nicht die hellsten Köpfe, aber wir haben uns bewusst für ihre Schwarmintelligenz entschieden.
„Wenn ihr euren Auftrag erfüllt habt, nehmt ihr dies zu euch.“ Kevil hält die Phiole mit schimmernder Flüssigkeit empor, damit der Gaav sie begutachten kann. Sera Schwarzschwan war dabei behilflich diese aufzutreiben. „Ihr werdet daraufhin zurück auf die Materielle Ebene gelangen. Dann macht ihr euch auf den Weg in die Kamelande, einem Gebiet zwischen Brevoy und den Flusskönigreichen. Von dort aus teleportiert ihr euch in diesen Keller. Hier werdet ihr auf uns warten und uns berichten, was ihr in Erfahrung bringen konntet.“ Der Teufel memoriert missmutig die genannten Begriffe. Nun ist es an mir ihm eine Gegenleistung anzubieten. „Wenn ihr euren Auftrag erfüllt, so springt natürlich auch eine Belohnung für euch heraus.“ „Ich will eine Seele!“, unterbricht er mich barsch. In dieser Hinsicht scheinen sie alle gleich zu sein. „Eine Seele werdet ihr nicht bekommen, dafür aber diesen Edelstein.“ Ich halte einen Opal ins Fackellicht. Wie belebte Muster tanzen die vielen Farben an Wänden und Boden. „Funkelstein!“ Die Augen des Gaav glänzen, sein Blick fixiert gierig den kleinen Schatz zwischen meinen Fingern.
Um sicher zu gehen, wiederhole ich den Auftrag noch einmal. Der Teufel willigt ein und ich spüre das magische Band, welches den Pakt in diesem Moment besiegelt. Sollte der Gaav seinen Auftrag erfüllen, wird der Edelstein in seinen Besitz übergehen. Ich lasse die Phiole zu ihm hinüberschweben und wirke anschließend den Zauber, welcher den Teufel wieder zurück in die Hölle bringt. Zumindest hoffe ich das. Sollte er im Mahlstrom oder einer anderen der vielen Existenzebenen landen, war die Mühe vergebens. Die Anspannung fällt von meinen Schultern. Es ist vollbracht. Dies war das erste Mal, dass ich eine Kreatur herbeigerufen, gebunden und sie in einen Pakt gezwungen habe. Es war weit weniger schwierig, als es in den alten Büchern beschrieben wurde. Doch war es lediglich ein Gaav, nicht etwa ein Osyluth. Ich versuche Shae zu beruhigen, ihr die aufgestellten Nackenhaare zu kraulen, doch sie weicht zurück. Ihre Vorbehalte scheinen sich nicht in Luft aufgelöst zu haben. Kevil hingegen grinst über das ganze Gesicht. „Könnt ihr mich das Lehren Faquarl? Kreaturen zu binden.“ Der Hexenmeister ist Feuer und Flamme. Andächtig schreitet er das Pentagramm ab und wiederholt einige der Worte, welche ich sprach, um den Teufel herbeizurufen. Doch jene Bücher, welche ich in den vergangenen Tagen ausgiebig studiert habe, sie würden ihn nur langweilen.
Bevor wir die schwere Eisentür hinter uns verriegeln, bringe ich einen Alarm im Keller an, welcher mich mit einem geistigen Signal warnen wird, sobald der kleine Teufel von seiner Mission zurück ist. Jeden Tag muss ich diesen Zauber erneut wirken und darf Narlgaard nicht verlassen, sondern muss mich stets in der Umgebung aufhalten. Ansonsten verpasse ich womöglich den Augenblick seiner Rückkehr, denn wenn ich mich zu weit von der Hirschfeste entferne durchtrenne ich das magische Band. Die Bitten einiger Ratsmitglieder Dies und Jenes in Restov oder Silberhalle aufzutreiben, muss ich daher mit Verweis auf meinen angeschlagenen Zustand ablehnen. Denn Kevil und ich haben beschlossen die Sache geheim zu halten. Keiner von uns ist gewillt sich gegenüber Bedenkenträgern zu rechtfertigen und davon sitzen einige im Hohen Rat. Dieser zerredet solche Vorhaben doch meist, anstatt bei ihrer Umsetzung zu helfen. Helfen könnten sie uns ohnehin nicht, keiner von ihnen, mit Ausnahme von Thuul Klarhaupt vielleicht. Doch ob der Abadar-Priester unsere Sache für unterstützenswert erachten würde ist wohl mehr als fraglich. Auch Mareen weiß von nichts und nicht einmal Mina gegenüber habe ich eine Bemerkung fallen lassen. Nur Kevil, Shae und ich sind eingeweiht. Somit wird dies, zumindest vorerst, unser kleines Geheimnis bleiben.
Einige Tage vergehen, bis ich schließlich einen durchdringenden Ton vernehme. Umgehend suche ich Kevil auf, der uns mit einem Dimensionsschritt in den Keller teleportiert. Erschrocken macht Elgin einen Satz zurück und lässt einen Furz fahren, als wir plötzlich, wenige Schritt entfernt, vor ihm auftauchen. Die Werkzeuge in seinen Armen fallen unter lautem Scheppern zu Boden. „Magister Faquarl? Kevil? Was macht ihr denn hier?“ Mit zittrigen Händen sammelt er sein Hab und Gut wieder auf. Wir scheinen dem armen Kerl einen mächtigen Schrecken eingejagt zu haben. Er hat eine Konstruktwerkstatt im oberen Geschoss und offenkundig etwas in den Lagern hier unten gesucht, wobei er versehentlich den Alarm auslöste. Damit hätten wir rechnen sollen, doch nach meiner Hochzeit war er in die Goluschkinberge gereist, um dort einige Angelegenheiten seiner dort lebenden Verwandten zu klären. So früh haben wir nicht mit seiner Rückkehr gerechnet. Doch was erzählen wir ihm nun? Noch während ich nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für unser plötzliches Auftauchen suche, ergreift Kevil das Wort. „Ihr habt einen Alarm ausgelöst, deshalb sind wir hier.“ Elgin beherrscht ebenfalls die arkanen Künste. Ihm etwas derart Offensichtliches zu verschweigen wäre eine Torheit. Doch den Grund für diese Maßnahme verschleiert der Hexenmeister. Die folgenden Sätze trägt er, ohne zu stocken und mit einer selbstbewussten Gelassenheit vor, die ich nur bewundern kann. Wir hätten einige Orte in Narlgaard auf magische Weise gesichert, damit wir mitbekommen, sollte Grigori zurückkehren. „Ihr habt doch von den Vorgängen um Grigori gehört?“ Elgin gibt mit einem heftigen Nicken zu verstehen, dass er über die Vorfälle unterrichtet wurde. „Nun, Ihr wisst sicherlich, dass er jederzeit und überall auftauchen kann.“ „Und wieso sollte er gerade hier auftauchen? Im Keller?“ „Wir wissen alle, dass er dunklen Orten sehr zugetan war. Er wird wohl nicht auf dem Marktplatz erscheinen, bei helllichtem Tage inmitten all der Leute.“ Elgin schaut nachdenklich drein und bestärkt fährt Kevil fort. „Und wir wissen ebenfalls, dass Grigori über mächtige Magie verfügt und damit zuverlässig an Informationen gelangen kann. Deshalb sollte das Wissen um diese kleinen Schutzvorrichtungen nicht allzu weit gestreut werden. Ich bitte euch daher dies für euch zu behalten.“ Der Zwerg scheint überzeugt zu sein. „Ich bin eingeweiht und werde niemandem davon berichten. Ich weiß wozu Magie in der Lage ist und weiß auch, dass Wissen behütet werden muss.“ Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Wie Kevil das nun wieder angestellt hat. Und wie oft er schon andere – etwa den Hohen Rat – auf diese Weise getäuscht haben mag? Abschließend beschwert sich Elgin mit einem Augenzwinkern. „Aber ihr müsst schon aufpassen, dass ihr nicht mich und andere zu Tode erschreckt!“
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Mit jedem verstreichenden Tag wird Kevil aufgekratzter und nervöser zugleich. Während einer Ratssitzung wirft er mir häufig vielsagende Blicke zu, wenn die Runde auf Grigori zu sprechen kommt. Ab und an sucht er mich mit Fragen zu Herbeirufungen auf. Auch lasse ich mich von seinen Bedenken anstecken, sodass ich seine Zweifel am Erfolg „unseres kleinen Freundes“ – wie er den Gaav seither nennt – bald auch die meinen werden. Doch endlich, an Tag neun, ertönt erneut das Signal. Wieder dauert es nur wenige Augenblicke bis wir im Keller eintreffen. Und diesmal ist es tatsächlich der Teufel, welcher den Alarm ausgelöst hat. Aus dem oberen Stockwerk sind durchdringende Hammerschläge zu hören. Der Gaav kreischt etwas auf infernal und als Kevil die Zungen-Zauber gewirkt hat ergeben die Laute einen Sinn. „Macht das das aufhört! Krrr …“ Beide Klauen presst er fest gegen seinen Schädel und blickt verstört drein. Ich versuche ihn zu beruhigen, damit Elgin die Schreie des Teufels nicht mitbekommt. Doch mein Bemühen hat nur mäßigen Erfolg. Kurzentschlossen eilt Kevil nach oben. Wenig später ersterben die Schläge und ich höre eine geflüsterte Botschaft des Hexenmeisters. „Ich bringe den Zwerg weg. Bin sofort wieder da. Halt du unseren kleinen Freund in der Zwischenzeit bei Laune.“
Nachdem die Hammerschläge verklungen sind, beruhigt sich der Gaav allmählich wieder und berichtet schließlich. „Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Jemand hat ihn gesehen. Er war dort, schon bevor ich hier bei euch war. Genau da, wo ihr vermutet habt. Also bin ich dorthin. Ich musste lange warten, viel Zeit. Irgendwann kam er an. Der Kerl versteckte sein hässliches Gesicht hinter der Maske. Und eine sterbliche Kreatur hatte er dabei. Ein junger Mansch. Ich glaube der lebt nicht mehr.“ Grigori wurde also vermutlich kurz nach seinem Verschwinden aus Narlgaard von anderen Schwarmteufeln bei der Zitadelle gesichtet. Bei dem toten jungen Menschen handelt es sich eventuell um Sören, den vermissten Jungen aus Narlgaard. Er wurde während unserer Abwesenheit entführt und war hoffentlich Grigoris letztes Opfer. „Wann traf er das erste Mal in der Zitadelle ein?“, will ich wissen. „Ich weiß es nicht. Wir messen die Zeit nicht wie ihr. Aber ich würde sagen: Nicht so lange bevor du mich gerufen hast. Außerdem hatte er ein Buch bei sich.“ Ich horche auf. Etwa die Pnakotischen Manuskripte? Doch die Beschreibung trifft nicht auf den vermissten Folianten zu. Ein großes Auge sei in der Mitte gewesen. „Dann, später, ist er wieder herausgekommen. Eine neue Figur kam.“ Ich erschaffe ein Bild von Jeremias. „Nein, nein, das ist jemand anderes. Trug keine Maske. Sah aus wie eine Manschin. Der mit der Maske – Grigori – gab der Manschin das Buch.“ Eventuell handelt es sich um die Kytonen-Apostel, welche mich zurückholte und uns auftrug Grigori, ihrem Geliebten Grüße zu übermitteln. Aufgeregt fährt der Gaav fort. „Ich bin in der Lage Zauber zu sehen.“ Damit meint er wohl, dass er zu jeder Zeit magische Auren wahrnehmen kann. Wie schon zuvor versuche ich ihm zu schmeicheln. „Das ist beeindruckend, erzählt mir mehr.“ „Ich konnte keine Zauber bei ihm sehen. Keinen einzigen.“ „Was ist mit dem Buch?“ „Auch keine Zauber. Magie nur bei der Manschin.“ Leider konnte er das Gespräch der beiden nicht verfolgen, da er die Sprache nicht verstand.
Kevil materialisiert sich plötzlich neben mir. Er blickt genervt drein und rollt mit den Augen. „Dieser verdammte Zwerg …“ Ich bringe ihn auf den neusten Stand und gebe mir bei der Zusammenfassung alle Mühe die Leistungen des Teufels heroisch hervorzuheben. Dabei nickt Kevil ihm anerkennend zu und seine Brust schwillt mit jedem Satz weiter an. Nur Shaes wachsame Augen verraten Misstrauen und Abscheu, doch der Teufel nimmt davon keine Notiz. „Was ist danach geschehen?“, will Kevil, an unseren kleinen Freund gewandt, wissen. „Nachdem Grigori der Manschin das Buch gegeben hat?“ „Er ist wieder rein, in die Zitadelle mit den Ketten und sie ist verschwunden. Es hat lange gedauert bis er wieder rauskam. Und dann hat er sich aufgelöst.“ „Aufgelöst?“, Kevil ist irritiert, was meint der Gaav? „Hat er sich teleportiert?“ „Da waren schwarze Fäden.“ Eine Schattenteleportation, wie auch Eskel sie seit dem Pakt mit dem Interlokutor beherrscht.
Doch mich interessiert die Frau und das Buch. Also frage ich ihn, ob er ein Trugbild von seiner Beobachtung erzeugen kann. „Sowas?“ Er lässt einige helle Lichtkugeln durch den Raum tanzen. „Funkellichter!“ Kevil muss lachen. Ihm scheint der kleine Teufel sympathisch zu sein. Es gelingt mir schließlich ein Ausschnitt aus seinen Gedanken zu erhaschen, als er mich in seinen Geist eindringen lässt. Blasse Haut, schwarzes, wallendes Haar, dunkle Roben. Sie hält ein Buch in Händen, aus dessen Mitte tatsächlich eine Pupille blickt. Doch die Symbolik des Einbands lässt darauf schließen, dass es sich um das Zauberbuch eines Magiewirkers handelt. Solche Bücher verfügen auch über keinerlei magische Auren, was der Beobachtung des Gaavs entspricht.
Schließlich fährt der Teufel mit seinem Bericht fort. „Ich habe gewartet bis gerade eben. Dann habe ich gespürt, dass ich zurückkommen muss und dieses Zeug getrunken. Ich war an einem ganz seltsamen Ort und Zack – jetzt bin ich hier.“ Kevil zieht die Augenbrauen hoch und macht ein erstauntes Gesicht. „Das ist wirklich beeindruckend, wie macht Ihr das? So schnell von einem Ort zum anderen gelangen?“ „Einfach so!“, der Teufel verschwindet und taucht sogleich einige Meter weiter wieder auf. „Jetzt bin ich hier, jetzt bin ich hier, jetzt bin ich ihr, jetzt da vorne. Ha! Hinter euch!“ Nun muss auch ich schmunzeln. Da der Auftrag erfüllt ist will ich den versprochenen Edelstein hervorholen, doch Kevil gibt mir ein Signal noch einen Moment zu warten. „Wir sind höchst zufrieden und bewundern Eure Fähigkeiten. Niemand hätte das besser machen können als Ihr. Deshalb bekommt ihr natürlich sogleich Eure Belohnung.“ Er gibt mir ein Zeichen und ich halte den Opal ins Licht. Während der Teufel gebannt den schimmernden Stein fixiert, macht Kevil einige schnelle Handbewegungen und murmelt etwas Unverständliches. Er versucht den Teufel zu bezaubern! „Weil Ihr Euch als ein fixer und vertrauenswürdiger Teufel herausgestellt habt, der uns zuverlässig mit vielen Informationen versorgt hat, haben wir ein Angebot für Euch. Wir können auch in Zukunft zusammenarbeiten. Und wir haben noch mehr von solch schönen Steinen.“ Er rasselt mit einem kleinen Beutel, in dem sich vermutlich alles Mögliche, aber keine Edelsteine befinden. „Leider können wir euch nur rufen und weitere Schätze anbieten, wenn wir Euren Namen kennen.“ Kevils Worte in Verbindung mit der Verzauberung zeigen ihre Wirkung, denn ohne nachzudenken ruft der kleine Gaav. „Das klingt nach einem guten Pakt. Ich heiße Granz’Chak.“ Kevil lächelt und deutet eine Verbeugung an. Abschließend ergreife ich das Wort. „Wir bedanken uns. Hiermit seid ihr entlassen.“ Der Stein in meinen Händen verschwindet und mit ihm unser kleiner Freund Granz’Chak.
Kevils Grinsen könnte nicht breiter sein. „Ein putziger Wicht, nicht wahr?“ Ich schüttle nur fassungslos mit dem Kopf. „Er hat Euch seinen Namen verraten. Er hat sich uns ausgeliefert. Einfach so.“ Ich beglückwünsche Kevil für seine Überredungskünste. Die wenigsten entlocken jemals einem Externaren seinen Namen. Nur Shae ist nicht begeistert angesichts Kevils Vorhaben den Teufel noch weitere Male herbeizurufen. Demonstrativ kehrt sie uns den Rücken und verschwindet wortlos. Doch das Unterfangen war erfolgreich. Wir wissen wo sich Grigori aufhält. Doch was plant er? Und was hat es mit dieser anderen Gestalt, der Frau mit dem Zauberbuch, auf sich? Und auch fehlt jeder Anhaltspunkt was mit den Pnakotischen Manuskripten geschehen ist. Ich weiß nicht was mich mehr umtreibt: Das Verlangen Rache an dem falschen Priester zu nehmen oder der Wunsch nach dem Folianten? Letztlich nützt uns die gewonnene Erkenntnis wenig. Grigori war in der Zitadelle und wird vermutlich von Zeit zu Zeit dort auftauchen. Doch wir werden in naher Zukunft wohl keine weitere Reise in die Höllenstadt unternehmen. Ich hege die Hoffnung, dass Grigori zumindest das Interesse an Narlgaard verloren hat. Er hat den Auftrag Ovides erfüllt, sich das Artefakt unter den Nagel gerissen und muss nicht befürchten, dass wir ihm gefährlich werden könnten.
Kevil reist mich aus meinen Gedanken. „Elgin hat mir das Ohr abgekaut mit langweiligem Geschwätz über Baukunst und Konstrukte.“ Ich blicke ihn irritiert an. Noch immer weiß ich nicht, wie der Hexenmeister es geschafft hat den Zwergen loszuwerden. „Ich habe ihn zur zerstörten Wächterstatue am Tempel gebracht. Mein Interesse an diesem Steinkoloss hat er mir offensichtlich abgekauft. Er würde mir noch immer einen Vortrag über die Unterschiede zwischen zwergischer Baukunst und der anderer Völker halten, wenn ich es nicht geschafft hätte Kesten in das Gespräch zu verwickeln. Der Unglückliche muss sich jetzt anstatt meiner das Geschwätz anhören.“ Kein schlechter Einfall Kevils, so wurden wir nicht durch den Zwergen unterbrochen. Und die Einschätzungen Elgins bezüglich des Wächters klingen vielversprechend. Er meint ihn instand setzen zu können – wenn wir das denn wollen. Später am Tag suchen wir ihn ein weiteres Mal auf. Unserer Bitte den Alarmzauber ab sofort täglich zu erneuern kommt er bereitwillig nach. „Mit Freuden leiste auch ich meinen Beitrag zur Sicherheit der Stadt.“
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Fünfundvierzigste Sitzung am Samstag, den 5. Januar 2019 in Frankfurt.
Mit Tobi, Miles, Dominik, Lucas, Ilka und mir.
1. Rückkehr
Ich schlage meine Augen auf. Sie sind trocken und ich sehe nur milchig-verschwommene Umrisse. Sie offen zu halten kostet mich Mühe, die ich nicht aufzubringen vermag. Ich fühle das Leid, den Schmerz die Pein. Es hallt nach durch mein gesamtes Wesen, durch Körper und Geist, versucht von außen in mich einzudringen und gleichzeitig von innen heraus seine Hülle zu sprengen. Nicht zu lokalisierende Höllenqualen als dumpfe Erinnerung. Als hätte man mich einer unsagbar grausamen Folter unter starker Betäubung unterzogen. Als sich die Möglichkeit bot, ergriff ich sie und entschied mich diesen Weg zu gehen. Mein Wille zurückzukehren war stark. Es war kein Abwägen, kein wohl überlegter Schritt an einer Gabelung mit zwei ordentlich beschrifteten Wegweisern. Es war eine Entscheidung, welche ich nie bewusst getroffen habe, sondern die jederzeit Teil von mir war. Was folgte waren Qualen. Qualen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und welche jeden künftigen derartigen Entschluss in Frage stellen. Erneut schlage ich meine Augen auf. Mein Blick ist klar, meine Gedanken jedoch weiterhin trübe. Das erste, was ich wahrnehme ist eine Schliere in meinem Auge, die sich langsam von links-oben nach rechts-unten bewegt. Ich verfolge sie, doch sie entwischt mir. Plötzlich spüre ich einen Strom von Energie meinen Körper fluten. Die magische Welle spült den dichten Nebel hinfort, welcher meinen Geist lähmte. Ich spüre eine kalte Berührung an meinem Arm, höre meinen eigenen, rasselnden Atem und dumpfe Stimmen. Sie nennen meinen Namen! Keine zwei Fuß von meiner Nasenspitze entfernt erkenne ich das blasse Gesicht einer Frau. Sie ist in dunkle Kleidung gehüllt, was den Kontrast zu ihrer fahlen Haut noch deutlicher werden lässt. Über mich gebeugt taxiert sie meine frisch vernähte Brust.
Noch bevor ich mir die Frage stellen kann, wen ich da vor mir sehe, drehe ich mich unwillkürlich zur Seite und würge klumpig-schwarzes Blut hervor. Jeder Atemzug fällt mir schwer, als würde ein Riese auf meiner Brust stehen. Der Schmerz in meinen Gliedern kämpf einen unerbittlichen Kampf um meine Aufmerksamkeit gegen die Qualen in meinen Erinnerungen. Ich glaube alles ausgespien zu haben, was mein Magen hergibt und hebe meinen Kopf vorsichtig von der eisigen, blutverschmierten Metalloberfläche. Was ich sehe verschafft Linderung: Die vertrauten Gesichter meiner Freunde. Eskel und Mareen, Moraven und auch Grunda beobachten meine unbeholfenen Atemversuche mit einer Mischung aus freudiger Erregung und ängstlicher Besorgnis. In diesem Moment wird mir bewusst, dass etwas fehlt. Ich spüre sie nicht, spüre nicht den Strom ihrer Gefühle, nicht die Verbindung unserer beiden Existenzen. Shae ist nicht hier! Mit der Hilfe von Eskel und Mareen gelingt es mir mich aufzusetzen. Die Frau vor mir mustert mich noch immer mit einem Interesse, welches man einem merkwürdigen, aber letztlich unnützen Gegenstand entgegenbringt. Ich verfolge jede ihrer geschmeidigen Bewegungen und mir wird gewahr, dass sie es gewesen sein muss, welche den Zauber wirkte, der mich zurück ins Leben brachte. Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Plötzlich macht sie einen Schritt zurück und spricht mit heiser-zischender Stimme: „Grüßt meinen Geliebten.“ Noch bevor die letzte Silbe ihre Lippen verlassen hat, verschmilzt sie mit den sie umgebenden Schatten und ist verschwunden.
Zu meiner Linken erkenne ich die Schemen eines Sakristan und eines Ostiarius, welche im Halbdunkel das Geschehen verfolgen. Erschrocken will ich vor meinen Entführern zurückweichen, doch meine Muskeln versagen mir den Dienst. Dann tritt eine weitere Gestalt hervor, doch noch bevor ich sie in Gänze wahrnehme, fällt mein Blick auf eine mir vertraute schlanke Klinge. Wie von einer unsichtbaren Kraft gesteuert klettere ich von dem Operationstisch auf meine wackligen Beine und taumle unbeholfen darauf zu. Allmählich gleitet mein Blick an der Klinge entlang. Sie steckt in einem von dunkelgrauer Haut überspannten Schädel. Wo ein Ohr hätte sein sollen klafft auf einer Seite ein Loch, auf der anderen ragen merkwürdig geschlungene Organe heraus. Mein Blick wandert weiter über den entstellten Torso die vielen Gliedmaßen entlang, welche einmal anderen Kreaturen gehörten. Wenige Schritte vor dem Interlokutor komme ich zum Stehen. Ich stolpere rückwärts, weg von meinem Peiniger und weg von meinem Wakizashi in seinem Schädel. Später wollte Moraven mir erklären, dass das Schwert verflucht sei. Eine Verzauberung hätte all die Jahre, welche ich die Klinge an meinem Gürtel trug, von mir Besitz ergriffen. Sicherlich meinte er es gut und wollte mich angesichts dieses schweren Verlustes besänftigen. Wäre ich bei Verstand und Kräften gewesen, so hätte ich zurückgefordert, was mein Eigen ist.
Grigoris Schergen, welche mich an diesen Ort entführten und mir mein Herz entnahmen, scheinen keine Bedrohung darzustellen. Ab und an wechseln meine Retter ein Wort mit ihnen und während Grunda sich um meine Verletzungen kümmert und Moraven mir meine Kleidung und Habseligkeiten bringt, scheint der Interlokutor Eskel zu etwas drängen zu wollen. Ich kann nur zusammenhangslose Gesprächsfetzen aufschnappen: „Ihr habt den ersten Schritt gemacht, nun seid Ihr ein Schattenwesen.“, „Zai und ihr Geliebter haben Fähigkeiten erlangt, welche Euer Vorstellungsvermögen übersteigen.“ und „Schließt die Transformation ab.“ Eskel zeigt sich interessiert an den Worten des Interlokutors und stellt seinerseits einige Fragen, doch die Antworten missfallen ihm offensichtlich. Als ich mich einigermaßen erholt und meine Lage einigermaßen erfasst habe, beschließen meine Freunde diesen Ort hinter sich zu lassen. Zu meiner Überraschung nehmen sie die Leiche einer ausgemergelten weiblichen Kreatur mit. Ihre rankenartigen Klauen schleifen über den glatten Steinboden. In ihrer Brust klafft ein Loch. Eine Wunde, welcher meiner gleicht. Ich traue mich nicht sie genauer zu untersuchen. Man scheint ihr Ähnliches angetan zu haben. Moraven richtet sich noch einmal an den Interlokutor und erklärt eine gemeinsame Vereinbarung für erfüllt. Dieser scheint die Einschätzung des Fürsten zu teilen und fügt hinzu, während er uns mustert: „Ihr seid ungewöhnlich. Insbesondere wenn man bedenkt, dass ihr von der Materiellen Ebene stammt und dort weit weniger eindrucksvolle Kreaturen beheimatet sind.“
Noch während wir die eisigen, mit Ketten behangenen Hallen durchschreiten, versuchen mich meine Freunde über die Ereignisse der letzten Tage aufzuklären. Sie erzählen unzusammenhängende Geschichten von einer Reise durch einen Engelsschlund, von Dispater-Münzen und Pakten mit Teufeln und Kytonen, von einer Flucht auf dem Rücken eines Drachen und einer Reise auf dem Styx, von einem sonderbaren, sich in Selbstgespräche verwickelndes Mädchen, sowie einer verstörenden Begegnung mit einer Kunstsammlerin. Doch die Satzfetzen ergeben keinen Sinn und das Zuhören fällt mir schwer. Ich versuche mich zu konzentrieren während ich meinem geschwächten Körper die nötige Kraft abringe, um die steinernen Stufen zu erklimmen. Enthusiastisch schildert Magni eine Geschichte und stolpert dabei fast über seine eigene Zunge. „Finnvarra hat mich fallen gelassen und ich bin im Sturzflug durch Heerscharen von Teufeln gerast. Ich hatte nur ein Ziel: Den Rücken Vahlxefesh’zars. Das ist eine Drachenfrau.“ Der Lichtzauber, welcher Magni umgibt erhellt in diesen Augenblicken eine riesige Statue. Ein Mann aus dessen Rücken freigelegte, leuchtend rote Blutgefäße wie Flügel wachsen. Die blasse Haut ist an vielen Stellen nicht vorhanden und zeigt die inneren Organe. Ich erkenne was ich dort vor mir habe und bleibe unwillkürlich stehen. Magni scheint dies jedoch nicht zu bemerken. Ohne Unterbrechung fährt er fort. „Sie hat eine Bibliothek hier in Dis musst du wissen. Und sie hat uns mehrfach aus der Patsche geholfen. Ohne sie hätten wir es wohl nicht geschafft. Jedenfalls stürze ich auf sie zu und -“ „Grigori“, stammele ich. Nun bleiben sie alle stehen und blicken mich fragend an. „Ihr habt nichts von Grigori erzählt.“ Eine dumpfe Vorahnung beschleicht mich. „Was soll mit ihm sein?“, will Grunda wissen. Bestürzt blicke ich in fragende Gesichter. „Grigori steckt hinter alldem. Er war es, der mich entführt hat. Er ist nicht, wer er vorgab zu sein. Grigori ist ein Kyton-Apostel.“
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Jegliche Farbe ist aus Grundas Gesicht gewichen. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Leise spricht sie zu sich selbst. „Das Antlitz Abadars wird beschmutz. Andeutungen. Hinweise. Immer und immer wieder.“ Sie schlägt die Lieder auf, verdreht die Augen und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Im Wahn setzt sie ihr Selbstgespräch immer lauter werdend fort. Mehrfach überschlägt sich ihre Stimme. „Die Morde in Silberhalle, Sven, Gerlinde, Juri und Svenja, der Knochenteufel, all die Vermissten. Jahrelang, vor meinen eigenen Augen. Und ich habe ihm gedient. Ihm gedient! Ich habe versagt!“ Sie stößt einen markerschütternden Schrei aus, der von den nackten Wänden wiederhallt und einige umherschwirrende Auguren in die Flucht schlägt. Kraftlos bricht sie in sich zusammen.
Sicher in der Bibliothek angekommen werde ich mit der Drachendame Vahlxefesh’zar bekannt gemacht. Ich finde einige Worte des Dankes, ohne genau zu wissen welche Rolle sie in den letzten Tagen spielte. Unter anderen Umständen hätte ich Tage, Wochen oder gar Monate die endlosen Bücherreihen studieren können, doch vage Andeutungen meiner Freunde bereiten mir Sorgen. Mina ist hier, doch wie ist sie an diesen Ort gekommen? Wie geht es ihr? Was ist geschehen? Niemand scheint in der Lage in Worte fassen zu können, was ihr zugestoßen ist. Ich eile in ihre Kammer. Zwei Betten stehen dort und in der Ecke brennt ein Kamin. Ich erhasche den Blick auf ein Mädchen von zehn oder zwölf Jahren, schenke ihr keine weitere Beachtung und blicke in die glasigen Augen meiner Mina. Man hat ihr ein helles Baumwollhemd übergezogen, doch sofort erblicke ich die Verletzungen darunter. Ihr rechter Arm zuckt, als ich sie umarme. Leise höre ich sie meinen Namen flüstern, aber ihr Blick geht durch mich hindurch. „Mina?“ Keine Reaktion. Ein Stich, schärfer als jeder Dolch, fährt mir in die Magengrube. Meine Augen werden feucht. Zitternd hebe ich das Hemd an und lasse es sofort wieder fallen, als ich die schrecklichen Narben darunter erblicke. Immer und immer wieder umarme ich meine Geliebte Mina, meine Frau, doch sie scheint nicht an diesem Ort zu sein. Vor mir ist nur ihre kaum wiederzuerkennende geschundene, blasse Hülle, aber nicht sie. „Ich bin mir sicher, dass wir in Silberhalle oder Neu Stetven jemanden finden, der etwas für sie tun kann.“ Ich habe Moraven nicht kommen hören, aber nun legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Sie lebt und wird wieder zu Kräften kommen.“ „Wieso Mina?“, murmle ich. „Wieso hatte es diese Kunstsammlerin, diese Ovide, auf Mina abgesehen. Und weshalb wollte sie ausgerechnet mein Herz?“ Erst meine ich, dass Moraven darauf ebenfalls keine Antwort hat, doch dann sagt er. „Pakalchi nähren sich von scheiternden Beziehungen. Sie genießen es die Bande, welche Personen verbindet, zerreißen zu sehen. Sie wissen, dass die gebrochenen und orientierungslosen Sterblichen empfänglich sind für den Einfluss des Bösen. Zwei Liebende am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht zu entführen und für immer zu entzweien muss für sie eine geradezu verzückende Vorstellung gewesen sein.“ Nach einigen Minuten des Schweigens ergreift er erneut das Wort. „Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.“ Er nimmt mich am Arm und führt mich zu dem Bett in welchem das Mädchen liegt und neugierig die eigenen Hände betrachtet. „Sie ist eure Tochter.“
Wir müssen zurück nach Narlgaard reisen. Was mag Grigori in der Zwischenzeit bereits angerichtet haben? Vahlxefesh’zar erhält als Dank für ihre bedingungslose Unterstützung einen besonders wertvoll anmutenden Schatz aus Ovides Sammlung und offenbar auch den Leichnam der Pakalchi. Moraven beäugt sie misstrauisch, da sie den Grund für ihr absonderliches Interesse nicht preisgibt. Doch uns bleibt keine Zeit über die Motive der Hüterin der Bibliothek nachzudenken; es ist an der Zeit die Hölle hinter uns zu lassen. Auch Nusea, die junge Frau, welche meinen Freunden auf dem Styx begegnet ist und ihren Dillion nicht retten konnte, hat sich entschlossen mit uns zu reisen. Nach einem emotionalen Abschied holt Frau Schwarzschwan einen gegabelten Metallstab hervor und wirkt den Zauber, der uns wieder zurück auf die Materielle Ebene bringt.
Um uns herum ist dichter Wald. Ich atme tief ein und höre auch alle anderen freudig nach Luft schnappen. Luft! Nie hat sie so gut gerochen, so gut geschmeckt, so wohltuend meine Lungen gefüllt. Moraven lässt sich ins Laub fallen und beginnt wie ein Verrückter zu Lachen. Eskel zerreibt dunkle, torfige Erde zwischen seinen Fingern und ein Lächeln umspielt seine Lippen. Die Nachmittagssonne bricht hie und da durch die Baumkronen. Ich höre die Stimmen von Vögeln und die Rufe anderer Tiere, welche wir mit unserem abrupten Auftauchen verschreckt haben. Ich versuche mir den Ort einzuprägen. Die Anordnung der Buchen und Eschen, die nahegelegene kleine Lichtung umgeben von Ulmen und der ausgetrocknete Bachlauf. Als ich meine diesen Flecken ausreichend studiert zu haben teleportiere ich mich mit Moraven, Magni und Grunda in meine ehemaligen Gemächer. Sofort spüre ich sie. „Shae!“, rufe ich in Gedanken. Mein Herz macht einen Satz und unsere gemeinsame Freude durchflutet mich von Kopf bis Fuß. Bis sie uns gefunden hat bin ich wieder zurück. Erneut wirke ich den Zauber und stehe wieder im Wald. Eskel, Mareen, Nusea und ich bilden einen Kreis und im nächsten Moment stehen wir alle in die Hirschfeste. Verwundert muss ich zusehen wie Magni Grunda mit eisernem Griff festhält und sie anbrüllt. Offenkundig war sie soeben im Begriff geradewegs zum Tempel zu stürmen. „Wo ist Moraven?“ Ich versuche mir Gehör zu verschaffen, denn ich kann den Fürsten nirgends erblicken. Eskel bewahrt einen kühlen Kopf und gibt einen Schlachtplan vor. Durch Unsichtbarkeitszaubern verborgen, machen wir uns auf den Weg zum Thronsaal, wo wir den Fürsten vermuten. Dort stoßen wir jedoch nicht auf Moraven, sondern finden Kevil in ein Gespräch mit Svetlana und Kesten vertieft. Die Ratsmitglieder und alle anderen Anwesenden sind von unserer plötzlichen Rückkehr überrascht und empfangen uns freudig. Wir speisen sie mit einsilbigen Antworten ab und versuchen umgehend in Erfahrung zu bringen, was Grigori in der Zwischenzeit angerichtet hat. Offenbar versteht Kevil unsere Sorge nicht. „Vater Grigori? Der Hohepriester hat mir nach Eurer Abreise mit seinem Rat beigestanden. Seit alle hohen Gäste abgereist sind, habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ „Wo ist er in diesem Augenblick?“, verlange ich zu wissen, doch Kevil schüttelt nur mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Das letzte Mal habe ich vor zwei Tagen mit ihm gesprochen.“ Mittlerweile ist auch Shae eingetroffen und rauscht mir ungebremst entgegen. Nach einer innigen Begrüßung teilt auch sie mir mit, dass es keine Unruhen gegeben hat. Mit einem Krachen fliegt die Tür auf, Benedikt Tropki eilt in den Saal und verkündet mit kräftiger Stimme. „Der Fürst ist zurückgekehrt!“ Bevor er von unserer Anwesenheit Notiz nimmt stürmen wir durch die offene Tür hinaus ins Freie.
Von überall her ist die Neuigkeit zu hören: „Der Fürst! Der Fürst ist zurück!“ Wir versuchen jene zum Schweigen zu bringen, welche unsere Rückkehr lobpreisen und damit unser Vorhaben Grigori in die Finger zu bekommen gefährden, doch das Unterfangen ist vergebens. Die Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Burg. Dann sehe ich ihn. Moraven steht auf seinem Balkon zum Innenhof der Hirschfeste und scheint allmählich zu realisieren, was er angerichtet hat. Unsere Blicke treffen sich und in diesem Moment ist ein entferntes Donnern zu hören. Berstender Stein gefolgt von panischen Schreien. Von einem Augenblick auf den nächsten herrscht ein unübersichtliches Treiben im Hof. Wir eilen durch das Burgtor und müssen mitansehen wie die gigantische Wächterstatue, welche Grigori einst als prächtiges Geschenk nach Narlgaard brachte, ein Haus in Schutt und Asche legt. Kevil und ich schnappen uns einige Ratsmitglieder und gemeinsam teleportieren wir uns ins Zentrum der Stadt, den Wächter aufzuhalten.
Im Innern der Statue vermute ich Alexander Kruskow, den Wächterpiloten in Grigoris Diensten. Er steuert das gigantische Konstrukt, aber wenn es mir gelingt die magische Verbindung zu kappen, dann ist diesem Spuk ein schnelles Ende bereitet. Jedoch zeigen weder meine noch Kevils Bannzauber Wirkung. Unterdessen hat sich Magni dem Steinkoloss in den Weg gestellt. Der scheint davon erst Notiz zu nehmen, als der Adamanthammer mit einem gewaltigen Hieb große Brocken aus seinem Bein schlägt. Die Kraft und der Mut des Zwergen sind eindrucksvoll, doch das Ergebnis bleibt ernüchternd. Mit Schrecken bemerke ich, dass auch Moraven auf den Wächter losgeht. Was meint der Fürst ausrichten zu können? Die Statue fährt herum und der gigantische Zweihänder schneidet in einem großen Bogen durch die Luft. Mit einem Schrei rammt Mareen ihre Schulter in die Flanke des Fürsten und stößt ihn zur Seite. Sie kommt dabei keinen Augenblick zu früh. Einen Wimpernschlag später hätte der Stahl nicht viel von Moraven übriggelassen. Zeitgleich nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Eskel sich im Rücken des Wächters in die Lüfte erhebt. Zielsicher steuert er auf das vergitterte Fenster zu, hinter welchem sich der Wächterpilot befindet. Er stiehlt sich geschickt in den Schatten des Ungetüms und verschwindet mit einem Schattenschritt in seinem Innern. Der Wächter holt zu einem weiteren Hieb gegen Mareen aus, als er plötzlich inmitten der Bewegung erstarrt, aus dem Gleichgewicht gerät und einen Flügel des Tempels mit ohrenbetäubendem Donnern unter sich begräbt.
Wo ist Grigori? Uns bleibt keine Zeit das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Hastig klettere ich über die Trümmer ins Innere des Tempels, springe die Stufen hinab und eile den Gang entlang. Die Tür mit dem großen goldenen Schlüssel steht offen, doch als ich schlitternd in Grigoris Gemächern zum Stehen komme, ist nichts von dem falschen Priester zu sehen. Er scheint sich mit all seinen Habseligkeiten aus dem Staub gemacht zu haben. Nur Grunda läuft mit hochrotem Kopf umher und stößt Flüche aus, welche ich niemals aus ihrem Mund erwartet hätte. Plötzlich dreht sie sich mit einem irren Funkeln in den Augen um und stürmt brüllend mit gezücktem Rapier aus der Kammer. „Wo ist dieser verlogene Handlanger? Wo ist Jeremias?“ Anstatt ihr blindlings hinterher zu eilen, nehme ich Grigoris Gemächer unter die Lupe und bemerke eine nachschwingende Beschwörungsaura. Grigori muss vor wenigen Minuten mittels eines Teleportationszaubers geflohen sein. Was hat sich Moraven dabei gedacht einfach so, mir nichts, dir nichts aus der Festung zu spazieren? Der Raum liegt da, wie ich ihn in Erinnerung habe. Der Mahagonitisch, die Wandbehänge und die grässliche Fratze, ein Abbild Vevelors, des gebrochenen Traums, wie ich nun erkenne. Darunter das mit Blut gefüllte Becken. Als nach und nach auch Mareen, Moraven, Magni und Eskel eintreffen sind sie, meinen Erzählungen zum Trotz, erschrocken von dem Anblick, der sich ihnen bietet. Vor unseren Augen verwandelt sich Mareen und zieht geräuschvoll die abgestandene Luft durch ihre Nüstern. „Menschenblut, wenige Tage alt“, stellt sie nüchtern fest, den Kopf über das Becken gebeugt. Ich hole eine Rolle Pergament hervor und tauche meinen Finger in das Becken. In dicken Tropfen benetzt das Blut das leere Blatt und sofort bilden sich Worte, welche uns Auskunft über die bemitleidenswerte Person geben, dessen Blut hier vergossen wurde. Es handelt sich um Sören, einen vierzehnjährigen Jungen aus Narlgaard, welcher bereits einige Tage vor der Hochzeit vergeblich gesucht wurde. Vor zwei Tagen hat man ihn an diesem Ort rituell ermordet. Folter und Verstümmelungen – das übliche Prozedere der Kytone. Vermutlich wurden seine Gliedmaßen verwendet, um weitere dieser Scheusale zu erschaffen. Grunda kann Jeremias nirgends auffinden, vermutlich hat er sich gemeinsam mit Grigori aus dem Staub gemacht. Grigoris zweiten Handlanger, den weißhaarigen Wächterpiloten Alexander Kruskow, finden wir mit aufgeschlitztem Hals auf den Stufen des Tempels vor, wo Eskel ihn zurückgelassen hat. Wir inspizieren das Ausmaß der Zerstörung. Die Schäden halten sich in Grenzen. Nur einige an den Marktplatz angrenzende Gebäude sind stark beschädigt und der Tempel ist zur Hälfte eingestürzt. In den kommenden Stunden suchen wir mit vereinten Kräften unter den Trümmern nach Verschütteten, Verwundeten und Toten. Glücklicherweise haben sich die meisten in Sicherheit bringen können und nur wenige sind dem Wächter zum Opfer gefallen. Doch wer mag sich ausmalen was geschehen wäre, wenn Eskel Alexander Kruskow nicht hätte stoppen können.
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In den Tagen nach unserer Rückkehr aus Dis ist an Erholung, an ein Aufatmen, an ein in sich gehen nicht zu denken. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Der Leichtsinn Moravens verhalf Grigori zur Flucht, nur mit Mühe und Not konnte verhindert werden, dass der Wächterpilot ganz Narlgaard in Schutt und Asche legte und die Hälfte der Mitglieder des Hohen Rates ist nicht bei Sinnen. Gedächtnislos, orientierungslos, traumatisiert. Doch zu welcher Hälfte gehöre ich? Mit Erschrecken muss ich feststellen, dass ich nicht mehr der bin, der ich vor wenigen Tagen noch war. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und bin daher dieser Tag meiner Kräfte beraubt. Ich habe meinen Geist nicht unter Kontrolle, schreckliche Bilder holen mich ein und mein morgendliches Ritual schlägt regelmäßig fehl. Dabei bin ich in diesen Tagen mehr denn je darauf angewiesen. Meine traumatisierte Mina und unsere Tochter brauchen meine Aufmerksamkeit. Niemand kann mir sagen was sie benötigen. Wenn ich nicht weiterweiß, frage ich meine treuesten Freunde um Rat, doch all die Bücher lassen meine Fragen unbeantwortet. Nun haben wir nicht einmal mehr einen Hohepriester, welchen ich aufsuchen könnte. Das Fürstentum droht in Chaos zu versinken. Auch hier werde ich an allen Ecken und Enden gebraucht. Nicht zuletzt brauche ich Zeit zum Nachdenken, Zeit, um die Ereignisse der vergangenen Tage zu verarbeiten, Zeit für mich. So versuche ich zu verdrängen, was nicht verdrängt werden kann, um meinen Verpflichtungen nachzukommen.
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2. Teufelsbeschwörung
Flackernde Fackeln erleuchten die kuppelförmige Halle. Silberpulver zeichnet ein perfektes Pentagramm auf den Steinfußboden. Unzählige Stunden hat mich der Bannkreis gekostet. Nicht die kleinste Lücke darf er aufweisen. Die beschworenen Kreaturen können jeden noch so winzigen Fehler nutzen, um ihm zu entfliehen. In den Schweißperlen auf Kevils Stirn spiegelt sich der Glanz der Flammen. Auch meine Hände zittern, was mich nur noch nervöser macht. Trotzdem beginne ich das Ritual. Unzählige Male habe ich die Worte gesprochen, immer und immer wieder die Bewegungen geformt. Doch noch nie habe ich die magische Energie freigesetzt. Jetzt ist es soweit.
Minuten vergehen. Das unrhythmische Wippen von Kevils Fuß trägt nicht zu meiner Entspannung bei. Ich spüre seine Aufregung. Er war es, der das Vorhaben vorantrieb. Es war nur eine Idee, einige sorglos ausgesprochene Worte, ein Einfall, der sofort wieder in Vergessenheit hätte geraten sollen. Wenn der Hexenmeister nicht gewesen wäre. Und nun stehen wir hier und ich spreche die abschließenden Worte der Formel. Dann vollende ich die magische Falle hastig mit einem Dimensionsanker. Meine Hände verharren in der Luft und für einen Augenblick meine ich einen Fehler gemacht zu haben. Dann flimmert die Luft für den Bruchteil einer Sekunde und vor uns schwebt ein kleiner Schwarmteufel.
Von Kopf bis Fuß misst er keinen halben Meter, aber das doppelte Paar Schwingen hat eine beträchtliche Spannweite. Die sehnigen Arme und Beine enden in vogelartigen Klauen und aufgrund des langen, spitz zulaufenden Unterkiefers gleicht das Gesicht einer höhnisch grinsenden Fratze. Hinter mir höre ich ein Fauchen. Shae scheint der Anblick unseres Gastes nicht zu behagen. Hektisch flattert er in seinem Gefängnis umher und schaut sich gehetzt um. Es dauert nicht lange bis er die Situation erfasst hat. Er wirkt einen Zauber, welcher ihm sein magisches Gefängnis offenbart. „Seid gegrüßt.“ Zwar ist der Teufel mein Gefangener, aber ich habe mich dazu entschlossen ihm gegenüber freundlich aufzutreten. Kevils Zungen-Zauber ermöglicht es uns die klackenden Laute nachzuahmen, welche diese Kreaturen als ihre Sprache bezeichnen. Als der Gaav landet, kratzen seine Krallen mit einem hässlichen Geräusch über den Stein. Mit beiden Klauen umklammert der Wicht seinen Speer, deutet damit auf mich und kreischt nervös: „Was willst du von mir?“ Ich spanne meine Muskeln an, richte mich zu meiner vollen Größe auf. „Wir haben euch herbeigerufen, um euch eine Aufgabe zu übertragen.“ „Sie hatten Recht, so fängt es immer an.“ Angesichts der Unterbrechung verengen sich meine Augen. Erst nach einem Moment der Stille fahre ich fort. „Ihr sollt Informationen über eine Person beschaffen, welche unter dem Namen »Vater Grigori« bekannt ist. Mit schnellen Handbewegungen erschaffe ich Trugbilder seiner Person. Eines zeigt ihn mit seiner goldenen Maske, das andere offenbart sein wahres Antlitz. Aus dem Augenwinkel merke ich, wie Kevil zusammenzuckt. „Hässlich!“, knurrt der kleine Teufel, aber ich übergehe seinen zutreffenden Kommentar. „Zu allererst müsst ihr ihn aufspüren. Dann werdet ihr ihn beobachten und euch merken, an welchen Orten er sich aufhält und mit welchen Kreaturen er sich trifft. Dabei dürft ihr nicht entdeckt werden und es ist euch untersagt andere Kreaturen von eurem Auftrag und euren Auftraggebern zu berichten.“ Während ich ihm den Befehl erteile grinst er und streckt die Brust aus. „Ihr … Euch …“, murmelt er stolz und lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen. „Das gefällt mir.“ Der Pluralis Majestatis scheint dem Gaav zu imponieren. „Wie soll ich diesen Vater Grigori finden?“ „Grigori verkehrt mit Kytonen. Sucht die Zitadelle der gebrochenen Ketten in Dis auf. Am unteren Ende des schwebenden Felsens befindet sich der Eingang zum Tempel des Vevelor. Wir vermuten, dass er sich dort aufhält.“ Ich lasse die Worte auf ihn wirken und versuche abzuschätzen, ob er seinen Befehl verstanden hat. Diese Gaav sind nicht die hellsten Köpfe, aber wir haben uns bewusst für ihre Schwarmintelligenz entschieden.
„Wenn ihr euren Auftrag erfüllt habt, nehmt ihr dies zu euch.“ Kevil hält die Phiole mit schimmernder Flüssigkeit empor, damit der Gaav sie begutachten kann. Sera Schwarzschwan war dabei behilflich diese aufzutreiben. „Ihr werdet daraufhin zurück auf die Materielle Ebene gelangen. Dann macht ihr euch auf den Weg in die Kamelande, einem Gebiet zwischen Brevoy und den Flusskönigreichen. Von dort aus teleportiert ihr euch in diesen Keller. Hier werdet ihr auf uns warten und uns berichten, was ihr in Erfahrung bringen konntet.“ Der Teufel memoriert missmutig die genannten Begriffe. Nun ist es an mir ihm eine Gegenleistung anzubieten. „Wenn ihr euren Auftrag erfüllt, so springt natürlich auch eine Belohnung für euch heraus.“ „Ich will eine Seele!“, unterbricht er mich barsch. In dieser Hinsicht scheinen sie alle gleich zu sein. „Eine Seele werdet ihr nicht bekommen, dafür aber diesen Edelstein.“ Ich halte einen Opal ins Fackellicht. Wie belebte Muster tanzen die vielen Farben an Wänden und Boden. „Funkelstein!“ Die Augen des Gaav glänzen, sein Blick fixiert gierig den kleinen Schatz zwischen meinen Fingern.
Um sicher zu gehen, wiederhole ich den Auftrag noch einmal. Der Teufel willigt ein und ich spüre das magische Band, welches den Pakt in diesem Moment besiegelt. Sollte der Gaav seinen Auftrag erfüllen, wird der Edelstein in seinen Besitz übergehen. Ich lasse die Phiole zu ihm hinüberschweben und wirke anschließend den Zauber, welcher den Teufel wieder zurück in die Hölle bringt. Zumindest hoffe ich das. Sollte er im Mahlstrom oder einer anderen der vielen Existenzebenen landen, war die Mühe vergebens. Die Anspannung fällt von meinen Schultern. Es ist vollbracht. Dies war das erste Mal, dass ich eine Kreatur herbeigerufen, gebunden und sie in einen Pakt gezwungen habe. Es war weit weniger schwierig, als es in den alten Büchern beschrieben wurde. Doch war es lediglich ein Gaav, nicht etwa ein Osyluth. Ich versuche Shae zu beruhigen, ihr die aufgestellten Nackenhaare zu kraulen, doch sie weicht zurück. Ihre Vorbehalte scheinen sich nicht in Luft aufgelöst zu haben. Kevil hingegen grinst über das ganze Gesicht. „Könnt ihr mich das Lehren Faquarl? Kreaturen zu binden.“ Der Hexenmeister ist Feuer und Flamme. Andächtig schreitet er das Pentagramm ab und wiederholt einige der Worte, welche ich sprach, um den Teufel herbeizurufen. Doch jene Bücher, welche ich in den vergangenen Tagen ausgiebig studiert habe, sie würden ihn nur langweilen.
Bevor wir die schwere Eisentür hinter uns verriegeln, bringe ich einen Alarm im Keller an, welcher mich mit einem geistigen Signal warnen wird, sobald der kleine Teufel von seiner Mission zurück ist. Jeden Tag muss ich diesen Zauber erneut wirken und darf Narlgaard nicht verlassen, sondern muss mich stets in der Umgebung aufhalten. Ansonsten verpasse ich womöglich den Augenblick seiner Rückkehr, denn wenn ich mich zu weit von der Hirschfeste entferne durchtrenne ich das magische Band. Die Bitten einiger Ratsmitglieder Dies und Jenes in Restov oder Silberhalle aufzutreiben, muss ich daher mit Verweis auf meinen angeschlagenen Zustand ablehnen. Denn Kevil und ich haben beschlossen die Sache geheim zu halten. Keiner von uns ist gewillt sich gegenüber Bedenkenträgern zu rechtfertigen und davon sitzen einige im Hohen Rat. Dieser zerredet solche Vorhaben doch meist, anstatt bei ihrer Umsetzung zu helfen. Helfen könnten sie uns ohnehin nicht, keiner von ihnen, mit Ausnahme von Thuul Klarhaupt vielleicht. Doch ob der Abadar-Priester unsere Sache für unterstützenswert erachten würde ist wohl mehr als fraglich. Auch Mareen weiß von nichts und nicht einmal Mina gegenüber habe ich eine Bemerkung fallen lassen. Nur Kevil, Shae und ich sind eingeweiht. Somit wird dies, zumindest vorerst, unser kleines Geheimnis bleiben.
Einige Tage vergehen, bis ich schließlich einen durchdringenden Ton vernehme. Umgehend suche ich Kevil auf, der uns mit einem Dimensionsschritt in den Keller teleportiert. Erschrocken macht Elgin einen Satz zurück und lässt einen Furz fahren, als wir plötzlich, wenige Schritt entfernt, vor ihm auftauchen. Die Werkzeuge in seinen Armen fallen unter lautem Scheppern zu Boden. „Magister Faquarl? Kevil? Was macht ihr denn hier?“ Mit zittrigen Händen sammelt er sein Hab und Gut wieder auf. Wir scheinen dem armen Kerl einen mächtigen Schrecken eingejagt zu haben. Er hat eine Konstruktwerkstatt im oberen Geschoss und offenkundig etwas in den Lagern hier unten gesucht, wobei er versehentlich den Alarm auslöste. Damit hätten wir rechnen sollen, doch nach meiner Hochzeit war er in die Goluschkinberge gereist, um dort einige Angelegenheiten seiner dort lebenden Verwandten zu klären. So früh haben wir nicht mit seiner Rückkehr gerechnet. Doch was erzählen wir ihm nun? Noch während ich nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für unser plötzliches Auftauchen suche, ergreift Kevil das Wort. „Ihr habt einen Alarm ausgelöst, deshalb sind wir hier.“ Elgin beherrscht ebenfalls die arkanen Künste. Ihm etwas derart Offensichtliches zu verschweigen wäre eine Torheit. Doch den Grund für diese Maßnahme verschleiert der Hexenmeister. Die folgenden Sätze trägt er, ohne zu stocken und mit einer selbstbewussten Gelassenheit vor, die ich nur bewundern kann. Wir hätten einige Orte in Narlgaard auf magische Weise gesichert, damit wir mitbekommen, sollte Grigori zurückkehren. „Ihr habt doch von den Vorgängen um Grigori gehört?“ Elgin gibt mit einem heftigen Nicken zu verstehen, dass er über die Vorfälle unterrichtet wurde. „Nun, Ihr wisst sicherlich, dass er jederzeit und überall auftauchen kann.“ „Und wieso sollte er gerade hier auftauchen? Im Keller?“ „Wir wissen alle, dass er dunklen Orten sehr zugetan war. Er wird wohl nicht auf dem Marktplatz erscheinen, bei helllichtem Tage inmitten all der Leute.“ Elgin schaut nachdenklich drein und bestärkt fährt Kevil fort. „Und wir wissen ebenfalls, dass Grigori über mächtige Magie verfügt und damit zuverlässig an Informationen gelangen kann. Deshalb sollte das Wissen um diese kleinen Schutzvorrichtungen nicht allzu weit gestreut werden. Ich bitte euch daher dies für euch zu behalten.“ Der Zwerg scheint überzeugt zu sein. „Ich bin eingeweiht und werde niemandem davon berichten. Ich weiß wozu Magie in der Lage ist und weiß auch, dass Wissen behütet werden muss.“ Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Wie Kevil das nun wieder angestellt hat. Und wie oft er schon andere – etwa den Hohen Rat – auf diese Weise getäuscht haben mag? Abschließend beschwert sich Elgin mit einem Augenzwinkern. „Aber ihr müsst schon aufpassen, dass ihr nicht mich und andere zu Tode erschreckt!“
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Mit jedem verstreichenden Tag wird Kevil aufgekratzter und nervöser zugleich. Während einer Ratssitzung wirft er mir häufig vielsagende Blicke zu, wenn die Runde auf Grigori zu sprechen kommt. Ab und an sucht er mich mit Fragen zu Herbeirufungen auf. Auch lasse ich mich von seinen Bedenken anstecken, sodass ich seine Zweifel am Erfolg „unseres kleinen Freundes“ – wie er den Gaav seither nennt – bald auch die meinen werden. Doch endlich, an Tag neun, ertönt erneut das Signal. Wieder dauert es nur wenige Augenblicke bis wir im Keller eintreffen. Und diesmal ist es tatsächlich der Teufel, welcher den Alarm ausgelöst hat. Aus dem oberen Stockwerk sind durchdringende Hammerschläge zu hören. Der Gaav kreischt etwas auf infernal und als Kevil die Zungen-Zauber gewirkt hat ergeben die Laute einen Sinn. „Macht das das aufhört! Krrr …“ Beide Klauen presst er fest gegen seinen Schädel und blickt verstört drein. Ich versuche ihn zu beruhigen, damit Elgin die Schreie des Teufels nicht mitbekommt. Doch mein Bemühen hat nur mäßigen Erfolg. Kurzentschlossen eilt Kevil nach oben. Wenig später ersterben die Schläge und ich höre eine geflüsterte Botschaft des Hexenmeisters. „Ich bringe den Zwerg weg. Bin sofort wieder da. Halt du unseren kleinen Freund in der Zwischenzeit bei Laune.“
Nachdem die Hammerschläge verklungen sind, beruhigt sich der Gaav allmählich wieder und berichtet schließlich. „Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Jemand hat ihn gesehen. Er war dort, schon bevor ich hier bei euch war. Genau da, wo ihr vermutet habt. Also bin ich dorthin. Ich musste lange warten, viel Zeit. Irgendwann kam er an. Der Kerl versteckte sein hässliches Gesicht hinter der Maske. Und eine sterbliche Kreatur hatte er dabei. Ein junger Mansch. Ich glaube der lebt nicht mehr.“ Grigori wurde also vermutlich kurz nach seinem Verschwinden aus Narlgaard von anderen Schwarmteufeln bei der Zitadelle gesichtet. Bei dem toten jungen Menschen handelt es sich eventuell um Sören, den vermissten Jungen aus Narlgaard. Er wurde während unserer Abwesenheit entführt und war hoffentlich Grigoris letztes Opfer. „Wann traf er das erste Mal in der Zitadelle ein?“, will ich wissen. „Ich weiß es nicht. Wir messen die Zeit nicht wie ihr. Aber ich würde sagen: Nicht so lange bevor du mich gerufen hast. Außerdem hatte er ein Buch bei sich.“ Ich horche auf. Etwa die Pnakotischen Manuskripte? Doch die Beschreibung trifft nicht auf den vermissten Folianten zu. Ein großes Auge sei in der Mitte gewesen. „Dann, später, ist er wieder herausgekommen. Eine neue Figur kam.“ Ich erschaffe ein Bild von Jeremias. „Nein, nein, das ist jemand anderes. Trug keine Maske. Sah aus wie eine Manschin. Der mit der Maske – Grigori – gab der Manschin das Buch.“ Eventuell handelt es sich um die Kytonen-Apostel, welche mich zurückholte und uns auftrug Grigori, ihrem Geliebten Grüße zu übermitteln. Aufgeregt fährt der Gaav fort. „Ich bin in der Lage Zauber zu sehen.“ Damit meint er wohl, dass er zu jeder Zeit magische Auren wahrnehmen kann. Wie schon zuvor versuche ich ihm zu schmeicheln. „Das ist beeindruckend, erzählt mir mehr.“ „Ich konnte keine Zauber bei ihm sehen. Keinen einzigen.“ „Was ist mit dem Buch?“ „Auch keine Zauber. Magie nur bei der Manschin.“ Leider konnte er das Gespräch der beiden nicht verfolgen, da er die Sprache nicht verstand.
Kevil materialisiert sich plötzlich neben mir. Er blickt genervt drein und rollt mit den Augen. „Dieser verdammte Zwerg …“ Ich bringe ihn auf den neusten Stand und gebe mir bei der Zusammenfassung alle Mühe die Leistungen des Teufels heroisch hervorzuheben. Dabei nickt Kevil ihm anerkennend zu und seine Brust schwillt mit jedem Satz weiter an. Nur Shaes wachsame Augen verraten Misstrauen und Abscheu, doch der Teufel nimmt davon keine Notiz. „Was ist danach geschehen?“, will Kevil, an unseren kleinen Freund gewandt, wissen. „Nachdem Grigori der Manschin das Buch gegeben hat?“ „Er ist wieder rein, in die Zitadelle mit den Ketten und sie ist verschwunden. Es hat lange gedauert bis er wieder rauskam. Und dann hat er sich aufgelöst.“ „Aufgelöst?“, Kevil ist irritiert, was meint der Gaav? „Hat er sich teleportiert?“ „Da waren schwarze Fäden.“ Eine Schattenteleportation, wie auch Eskel sie seit dem Pakt mit dem Interlokutor beherrscht.
Doch mich interessiert die Frau und das Buch. Also frage ich ihn, ob er ein Trugbild von seiner Beobachtung erzeugen kann. „Sowas?“ Er lässt einige helle Lichtkugeln durch den Raum tanzen. „Funkellichter!“ Kevil muss lachen. Ihm scheint der kleine Teufel sympathisch zu sein. Es gelingt mir schließlich ein Ausschnitt aus seinen Gedanken zu erhaschen, als er mich in seinen Geist eindringen lässt. Blasse Haut, schwarzes, wallendes Haar, dunkle Roben. Sie hält ein Buch in Händen, aus dessen Mitte tatsächlich eine Pupille blickt. Doch die Symbolik des Einbands lässt darauf schließen, dass es sich um das Zauberbuch eines Magiewirkers handelt. Solche Bücher verfügen auch über keinerlei magische Auren, was der Beobachtung des Gaavs entspricht.
Schließlich fährt der Teufel mit seinem Bericht fort. „Ich habe gewartet bis gerade eben. Dann habe ich gespürt, dass ich zurückkommen muss und dieses Zeug getrunken. Ich war an einem ganz seltsamen Ort und Zack – jetzt bin ich hier.“ Kevil zieht die Augenbrauen hoch und macht ein erstauntes Gesicht. „Das ist wirklich beeindruckend, wie macht Ihr das? So schnell von einem Ort zum anderen gelangen?“ „Einfach so!“, der Teufel verschwindet und taucht sogleich einige Meter weiter wieder auf. „Jetzt bin ich hier, jetzt bin ich hier, jetzt bin ich ihr, jetzt da vorne. Ha! Hinter euch!“ Nun muss auch ich schmunzeln. Da der Auftrag erfüllt ist will ich den versprochenen Edelstein hervorholen, doch Kevil gibt mir ein Signal noch einen Moment zu warten. „Wir sind höchst zufrieden und bewundern Eure Fähigkeiten. Niemand hätte das besser machen können als Ihr. Deshalb bekommt ihr natürlich sogleich Eure Belohnung.“ Er gibt mir ein Zeichen und ich halte den Opal ins Licht. Während der Teufel gebannt den schimmernden Stein fixiert, macht Kevil einige schnelle Handbewegungen und murmelt etwas Unverständliches. Er versucht den Teufel zu bezaubern! „Weil Ihr Euch als ein fixer und vertrauenswürdiger Teufel herausgestellt habt, der uns zuverlässig mit vielen Informationen versorgt hat, haben wir ein Angebot für Euch. Wir können auch in Zukunft zusammenarbeiten. Und wir haben noch mehr von solch schönen Steinen.“ Er rasselt mit einem kleinen Beutel, in dem sich vermutlich alles Mögliche, aber keine Edelsteine befinden. „Leider können wir euch nur rufen und weitere Schätze anbieten, wenn wir Euren Namen kennen.“ Kevils Worte in Verbindung mit der Verzauberung zeigen ihre Wirkung, denn ohne nachzudenken ruft der kleine Gaav. „Das klingt nach einem guten Pakt. Ich heiße Granz’Chak.“ Kevil lächelt und deutet eine Verbeugung an. Abschließend ergreife ich das Wort. „Wir bedanken uns. Hiermit seid ihr entlassen.“ Der Stein in meinen Händen verschwindet und mit ihm unser kleiner Freund Granz’Chak.
Kevils Grinsen könnte nicht breiter sein. „Ein putziger Wicht, nicht wahr?“ Ich schüttle nur fassungslos mit dem Kopf. „Er hat Euch seinen Namen verraten. Er hat sich uns ausgeliefert. Einfach so.“ Ich beglückwünsche Kevil für seine Überredungskünste. Die wenigsten entlocken jemals einem Externaren seinen Namen. Nur Shae ist nicht begeistert angesichts Kevils Vorhaben den Teufel noch weitere Male herbeizurufen. Demonstrativ kehrt sie uns den Rücken und verschwindet wortlos. Doch das Unterfangen war erfolgreich. Wir wissen wo sich Grigori aufhält. Doch was plant er? Und was hat es mit dieser anderen Gestalt, der Frau mit dem Zauberbuch, auf sich? Und auch fehlt jeder Anhaltspunkt was mit den Pnakotischen Manuskripten geschehen ist. Ich weiß nicht was mich mehr umtreibt: Das Verlangen Rache an dem falschen Priester zu nehmen oder der Wunsch nach dem Folianten? Letztlich nützt uns die gewonnene Erkenntnis wenig. Grigori war in der Zitadelle und wird vermutlich von Zeit zu Zeit dort auftauchen. Doch wir werden in naher Zukunft wohl keine weitere Reise in die Höllenstadt unternehmen. Ich hege die Hoffnung, dass Grigori zumindest das Interesse an Narlgaard verloren hat. Er hat den Auftrag Ovides erfüllt, sich das Artefakt unter den Nagel gerissen und muss nicht befürchten, dass wir ihm gefährlich werden könnten.
Kevil reist mich aus meinen Gedanken. „Elgin hat mir das Ohr abgekaut mit langweiligem Geschwätz über Baukunst und Konstrukte.“ Ich blicke ihn irritiert an. Noch immer weiß ich nicht, wie der Hexenmeister es geschafft hat den Zwergen loszuwerden. „Ich habe ihn zur zerstörten Wächterstatue am Tempel gebracht. Mein Interesse an diesem Steinkoloss hat er mir offensichtlich abgekauft. Er würde mir noch immer einen Vortrag über die Unterschiede zwischen zwergischer Baukunst und der anderer Völker halten, wenn ich es nicht geschafft hätte Kesten in das Gespräch zu verwickeln. Der Unglückliche muss sich jetzt anstatt meiner das Geschwätz anhören.“ Kein schlechter Einfall Kevils, so wurden wir nicht durch den Zwergen unterbrochen. Und die Einschätzungen Elgins bezüglich des Wächters klingen vielversprechend. Er meint ihn instand setzen zu können – wenn wir das denn wollen. Später am Tag suchen wir ihn ein weiteres Mal auf. Unserer Bitte den Alarmzauber ab sofort täglich zu erneuern kommt er bereitwillig nach. „Mit Freuden leiste auch ich meinen Beitrag zur Sicherheit der Stadt.“
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Fünfundvierzigste Sitzung am Samstag, den 5. Januar 2019 in Frankfurt.
Mit Tobi, Miles, Dominik, Lucas, Ilka und mir.
Zuletzt von Jakob am Do Sep 26, 2019 3:54 pm bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet