Ein Reisebericht von Faquarl
1. Ein uns unbekannter Wald
Es war nicht anders zu erwarten, wieder einmal verlassen wir die windschiefe Hütte der alten Hexe ratlos und mit mehr Fragen, als wir sie betreten haben. Doch zumindest schienen meine Bedenken, dass die alte Frau einen Groll gegen uns hegen und somit eventuell hinter dem Angriff des Teufels auf Narlgaard stecken könnte unbegründet. Sie zeigt weder für Raifs und seine Horde von Wilden, noch für unsere Aktivitäten im Grüngürtel sonderlich großes Interesse, sondern widmet ihre Aufmerksamkeit nur ihrem kleinen, abgeschiedenen flecken Land. Selbst vom herannahenden Nebel zeigte sie sich gänzlich unbeeindruckt! Entweder ist sie wirklich diesen Gefahren überlegen oder sie hat alles was kommen mag bereits akzeptiert und gibt sich diesem schicksalsergeben hin. Dieses Desinteresse an all jenen Geschehnissen ist aber auch der Grund, weshalb unsere dringlichsten Fragen gänzlich unbeantwortet blieben.
Wir verabschieden uns auch von Moraven und Layra. Die beiden werden nach Narlgaard zurückkehren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Wir hingegen machen uns auf den Weg hinein in den Wald, hinein in den Nebel. Durch das Gespräch ist unsere Vermutung bekräftigt worden, der Nebel könne in Verbindung mit der Statue und Apparatur unter der alten Burg stehen, in welcher sich die Hobgoblins aufhielten. Unseren Schätzungen zur Folge, müssten wir diesen Ort zu Fuß binnen fünf Tagen erreichen. Mit dem von geisterhaften Pferden gezogenen Wagen fahren wir bei am Hauerwasser entlang und an der ehemaligen Siedlung der Echsenmenschen vorbei, bis wir auf die Nebelwand stoßen. Als wir unser Gefährt stoppen, vernehmen wir wenige Momente später die uns vertraute Stimme Perliwashs. Der Feendrache ist sichtlich erschöpft. Er scheint uns schon seit einigen Minuten gefolgt zu sein, konnte unser Gespann jedoch nicht einholen. Nach Luft schnappend fragt er was uns hierher verschlägt. „Da geht es nicht weiter, dort ist dieser entsetzliche Nebel. Ihr wollt doch nicht etwa da rein? Niemand der ihn betreten hat ist jemals wieder rausgekommen.“ Aber wir lassen uns von den warnenden Worten unseres kleinen Freundes nicht abbringen. Sodann beginnt er uns von seinen Abenteuern zu erzählen. Momentan verfolgt Perliwash die Fährte eines Wildschweins. In den letzten Tagen habe er es mehrfach mit seinen Zaubertricks geärgert, jetzt wolle er es jagen. „Jagen? Wofür? Du kannst doch kein ganzes Wildschwein verdrücken“, gibt Ava zu bedenken, „Ich glaube Wildschweine sind treue Seelen, du könntest dich mit ihm anfreunden, dann hast du einen Gefährten hier im Wald.“ Die Idee scheint dem Feendrachen zu gefallen und voller Tatendrang verschwindet er kichernd im Wald. Da es bereits dämmert entscheiden wir in sicherem Abstand zum Nebel, am Ufer des Murks unser Lager aufzuschlagen. In der Nacht bleibt es ruhig und so können wir am nächsten Morgen ausgeruht aufbrechen. Wir alle sind angespannt, wissen doch nicht was uns erwarten wird. Nur schwer kann ich mir vorstellen über Tage nicht weiter als bis zu meinen Fingerspitzen blicken zu können. Damit wir uns nicht verlieren, werden zwei Seile aneinander gebunden und an unseren Gürteln befestigt. So aneinandergekettet machen wir uns wie ein kleiner Trupp Sträflinge, den Murks immer direkt zu unserer Linken auf den Weg in Richtung der grauen, undurchdringlichen Masse.
Nach wenigen Metern ist der Nebel so dicht, dass ich Grunda vor und Eskel hinter mir nicht mehr sehen kann, sondern nur noch dem Seil folge. Es wird merkwürdig dunkel, als würde der Nebel das Licht verschlucken und uns umgibt ein silbriges Zwielicht. Ich hoffe darauf, dass Magni, welcher in Front läuft, den rechten Weg einschlagen wird. Bereits nach wenigen Minuten erkenne ich wieder die Umrisse von Grunda Holler. Der Nebel scheint hier weniger dicht. Es dauert nicht lange, da haben sich die Schlieren gänzlich verzogen und wir können uns wieder ungehindert umsehen. Wie kann das sein? Handelt es sich etwa nur um einen Ring aus Nebel? Doch gemeinsam mit Ava bin ich noch gestern in die Lüfte aufgestiegen und wir beide haben ein gigantisches Nebelfeld erblicken können. Doch hier herrschen keineswegs normale Lichtverhältnisse. Es scheint Nacht zu sein, obwohl wir vor wenigen Momenten mit den ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen sind. Der Wald ist aber durch den Sternenhimmel erleuchtet, welcher uns gänzlich unbekannt ist und die Quelle des Zwielichtes zu sein scheint. So viele Sterne haben wir noch nie gesehen. Wo sind wir? Mir schießt wieder das Bild Lucretias durch den Kopf, wie sie durch das Portal schreitet, im Hintergrund ein hell erleuchteter Sternenhimmel. Aber ich bin mir keineswegs sicher, ob es dabei eine Verbindung gibt, zu kurz war der Moment und zu lang ist dies nun her. Der Avadler unternimmt einen Erkundungsflug, während wir den Wald inspizieren. Dieser scheint völlig real und dem uns bekannten Wald zu entsprechen. Magni fällt einen kleinen Baum und begutachtet das Ergebnis. Eine schwarze, ölige und klebrige Substanz quillt hervor. Sie riecht nach Süßholz, scheint nicht giftig und auch nicht magischen Ursprungs zu sein. Eskel ist verblüfft, als er achtundsechzig Baumringe zählt, schien die Pflanze doch sehr jung zu sein. Der Alchemist macht uns auch darauf aufmerksam, dass es gänzlich still ist und sich auf dem Waldboden keine Insekten tummeln. Tatsächlich können wir keine Tiere, nicht die allerkleinsten entdecken. Auch im Fluss scheinen keine Fische zu schwimmen. Schließlich stößt Ava wieder zu uns und berichtet, dass weit und breit nichts von dem Nebel zu sehen sei. Der hell erleuchtete Nachthimmel hat es ihr ermöglicht fast wie bei Tage zu sehen. Überall um uns herum ist nur der dichte Wald. Auch im Südosten, wo sich doch eigentlich die Hügel der Kamelande erstrecken sollten. Im Süden sei ein See zu sehen und im Westen ein Gebirgszug. Ganz offensichtlich befinden wir uns nicht mehr in der Narlmark, ja nicht mal mehr im Grüngürtel. Denn die Beschreibung läuft all unseren Aufzeichnungen zuwider. Doch ich kann keine Anzeichen entdecken, welche darauf schließen lassen, dass wir uns auf einer anderen Existenzebene befinden. Haben wir etwa unbemerkt und unfreiwillig durch das Betreten des Nebels eine Reise durch Raum und Zeit unternommen?
Wir sind etwas verstört. Von einem Augenblick auf den andern hat sich der Nebel und damit unser Problem in Luft aufgelöst, doch gleichzeitig scheinen wir nun mit ganz andern, noch undurchsichtigeren Problemen konfrontiert. Während wir überlegen, ob es sinnvoll wäre den Murks – handelt es sich denn überhaupt noch um den uns bekannten Fluss? – wieder einige hundert Meter in entgegengesetzte Richtung entlang zu laufen, um herauszufinden, ob wir auf diesem Weg wieder zurück in den Nebel und schließlich auch zurück in die uns bekannte Umgebung gelangen, schrecken wir plötzlich durch den Klang unbekannter Stimmen auf. Ava, welche der Sprache dieser Wesen mächtig ist, weiß dass wir von diesen entdeckt wurden und wir uns somit nicht mehr in Sicherheit bringen können. Zwischen den Baumstämmen tauchen eben jene Kreaturen auf, welche Rezbinnen mehrfach heimgesucht haben. „Verfluchte Spriggan“, grummelt Magni in seinen Bart und zieht seinen Hammer. Schnell wirke ich einen Zauber, welchen ich in den letzten Tagen studiert habe und gebe meinen Freunden die Anweisung die Angreifer erst einmal nicht zu attackieren. Sollte der Zauber seine Wirkung entfalten, werden unsere verwirrten Gegner uns voraussichtlich nicht angreifen und sich eventuell sogar gegenseitig bekämpfen. Doch Ava scheint meine Anweisung nicht gehört oder nicht verstanden zu haben – beides an sich unmöglich – aber anders erschließt es mir nicht, weshalb sie einen Regen aus Gesteinsbrocken auf die Spriggan niedergehen lässt. Dies verhindert natürlich die Wirkung meines Zaubers und bringt Ava in große Gefahr, da unsere Feinde sie nun unverzüglich angreifen werden. Auch Grunda Holler schaltet nicht schnell genug und versenkt ihren Rapier tief in der Brust eines Spriggan. Zumindest einer der Angreifer ist von meinem Zauber betroffen und schlitzt sich selbst den Arm auf. Grunda kann einen erneuten Treffer landen und auch Eskel macht mit einem der Angreifer kurzen Prozess. Doch ich war einen Moment lang unaufmerksam und werde von der Pranke eines Spriggans hart getroffen. Dieser ergreift und reißt mich von den Füßen in die Luft. Erschrocken versuche ich aus meinem Beutel Farben hervorzuholen, um die Kreatur zu betäuben. Doch diese schleudert mich wütend herum, wodurch das ich das bunte Pulver lediglich auf dem Waldboden verteile. Ava ist glücklicherweise geistesgegenwärtig, eilt herbei, bekommt meinen Fuß zu fassen und verwandelt meinen Körper zu Gas. Der Spriggan ist verdutzt, als ich plötzlich seinen mächtigen Klauen entschwinde und wird im nächsten Moment von Grundas Schwert aufgespießt. Magni kann unterdessen den Kampf gegen eine besonders kräftige Kreatur für sich entscheiden und auch der letzte Angreifer ist schnell besiegt.
Wir haben einen ersten Angriff abwehren können, doch wer mag voraussehen ob weitere folgen werden? Oder muss die Frage vielmehr lauten: Wie viel Zeit bleibt uns bis zum nächsten Angriff? Denn woher wussten die auf sonderbare Weise entstellten Wesen von unserem Aufenthaltsort? Wir hatten den Nebel, welcher nun nicht mehr vorhanden ist, doch erst kurze Zeit zuvor betreten. Zufall? Unwahrscheinlich. Doch weshalb greifen sie uns überhaupt an? Vielleicht sind sie tatsächlich besessen, das hatten schon Perliwashs Worte nahegelegt. Oder sie werden von jemandem – oder von etwas – gesteuert. Wir wollen jedenfalls herausfinden was es mit unseren höchst besorgniserregenden Entdeckungen auf sich hat und laufen daher in entgegengesetzte Richtung am Bach entlang. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, müssten wir innerhalb kürzester Zeit wieder auf den Nebel stoßen, um uns kurz darauf wieder in dem uns bekannten Wald, der Narlmark, wiederzufinden. Doch ich bin keineswegs überrascht, als ebendies nicht eintritt. Der Weg, welcher uns hierher geführt hat, führt uns nicht wieder heraus. Unsere Spuren werden mit jedem Schritt undeutlicher, bis Eskel und Ava sie schließlich nicht mehr ausmachen können.
Während meine Gefährten noch mit der Situation hadern, nehme ich diese als gegeben hin. Doch begreifen kann ich die Tatsachen nicht, mit welchen wir konfrontiert sind. Unseren Beobachtungen nach befinden wir uns nicht mehr auf der uns bekannten Ebene. Doch wann sollen wir diese verlassen haben? Gab es einen Zeitpunkt, an welchem wir nach dem Betreten des Nebels hätten umkehren können? Mit welchem Schritt haben wir eine neue Ebene betreten? War der Nebel eine Art Übergangsbereich zwischen den Ebenen? Dann müsste eben dieser nun auch aufzufinden sein, denn die Spriggan waren in der Lage den Nebel zu verlassen, als sie Rezbinnen angriffen. Nein, ein Ebenenwechsel scheint nicht stattgefunden zu haben.
Wir machen kehrt und sind ein wenig erleichtert, als wir zumindest die toten Körper der Spriggan wiederentdecken. Zumindest scheinen wir nun wieder am selben Ort zu sein und die Gesetze von Raum und Zeit nicht vollständig außer Kraft gesetzt. Als ich die Frage nach einem konkreten Plan in den Raum werfe, meinen meine Freunde an dem bisher beschlossenen Vorgehen festhalten zu wollen. Ich deute an, dass dieser Plan im Angesicht völlig neuer Umstände wohl nicht mehr geeignet ist unsere Ziele zu erreichen. Dieser sah vor am Murks entlang bis zur Burg vorzudringen, welche wir im Zentrum des Nebels vermuteten. Doch es gibt keinen Nebel mehr, der Wald um uns herum ist nicht die Narlmark, der Bach, welchem wir folgen, nicht der Murks. Wir sind zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Hier eine Burg aufzusuchen, sei in etwa so erfolgsversprechend, wie eine Suche nach Olegs Handelsposten in Numeria mit Hilfe einer Karte von Absalom. Grunda schaut mich daraufhin verständnislos an, Eskel nickt anerkennend und Ava meint spöttisch: „Also dort entlang?“ Und zeigt in eine beliebige Richtung. „Na sieh mal, du hast doch selbst keine Ahnung wohin es gehen soll. Damit ist es auch nicht verkehrter diesen Weg einzuschlagen. Und am Bach können wir uns orientieren.“ Das stimmt natürlich und ich muss eingestehen keine bessere Idee zu haben. Somit folgen wir dem Bachlauf durch den Wald.
2. Todesdrohungen
Während wir die stille Gegend entlang wandern, stellt Grunda ununterbrochen Fragen. Wie sind wir hierher gekommen? Wie kommt man von hier weg? Warum gibt es hier keine Tiere? Woher kommen die Spriggan und handelt es sich bei ihnen um böse Kreaturen? Anfangs versuche ich ihr die Fragen, auf welche ich zumeist keine passende Antwort habe, mit gedämpfter Stimme zu beantworten. Dabei achte ich darauf sie mit meinen Antworten nicht zu verstören. Doch mit jeder Frage werde ich gereizter, ärgere mich über mein Unwissen, denn ihre Fragen sind zumeist auch die meinen. Zudem fühle ich mich hier unwohl, habe das Gefühl ununterbrochen beobachtet zu werden. Und plötzlich hält Magni inne und meint tatsächlich etwas im Gebüsch erblickt zu haben. „Ein Hirschgeweih?“, fragt Eskel ungläubig. „Ich bin mir sicher, es war genau hier.“ Der Zwerg deutet auf einen nahegelegenen Strauch. Auch meine Zweifel verfliegen, als Ava auf dem Boden zwischen den Ästen Spuren von Hufen entdeckt. „Dann scheint es hier also doch Tiere zu geben“, folgert der Zwerg. „Oder es war kein Tier“, gebe ich zu bedenken. „Erst der Hirschkönig, dann die eiserne Statue, welche ebenfalls ein Geweih und die Aufschrift ‚König des Waldes‘ trug und nun das“, murmelt Eskel. Das ist in der Tat äußerst merkwürdig. Und die Statue in der alten Burg steht mit dem Verschwinden Lucretias und unserer ersten unbeabsichtigten Reise an einen anderen Ort, den Mahlstrom, in noch ungeklärtem Zusammenhang. Während wir so hin und her überlegen und sich mit jeder Verknüpfung mehr Fragen auftun als klären lassen, vernehmen wir plötzlich eine unbekannte weibliche Stimme. „Ihr habt euch verlaufen.“ Erschrocken fahren wir herum, spähen in den Wald, können aber niemanden entdecken. „Was sucht ihr hier? Ihr werdet hier nicht lange überleben. Dieser Ort ist keiner für euch. Versteckt euch. Oder kommt zu mir und meiner Herrin. Wir werden euch an einen schöneren Ort führen.“ Die Stimme, das habe ich mittlerweile erkannt, wird mittels des Zaubers Windgeflüster von einem anderen Ort zu uns getragen. Unsere Erwiderungen bleiben folglich ungehört. Zudem scheint mein Unbehagen berechtigt gewesen zu sein. Offensichtlich werden wir von jemanden beobachtet. Doch was sollte diese Nachricht? Uns verunsichern, Angst einjagen? Denn eine Wegbeschreibung ist sie uns schuldig geblieben.
Somit setzen wir den eingeschlagenen Weg durch den vom Sternenhimmel erleuchteten Wald fort. Unsere suchenden Blicke wandern von Baum zu Baum, denn wir befürchten, dass die bösartigen kleinen Spriggan sich verborgen halten und auf einen günstigen Zeitpunkt für einen Angriff lauern könnten. Doch es bleibt gespenstig still im Wald, kein Wind, kein Blätterrascheln, keine Vogelrufe. Nur das Klappern von Magnis Rüstung und unsere Schritte auf dem Waldboden. Nach wenigen Stunden Marsch und einigen kleineren Pausen erblicken wir aus der Ferne eine Lichtung, welche in violettes Licht getaucht ist. Erst als wir uns vorsichtig nähern, erkennen wir, dass es sich um eine von schimmernden Veilchen übersäte Wiese handelt. Gerade als die Halblingsdame an den Rand der Lichtung tritt und eine der Blumen pflücken will, erhebt sich in einiger Entfernung inmitten der violetten Blüten eine Gestalt. Sie ähnelt einer Frau, doch der Körper ist von Ranken und wurzelartigem Gewächs bedeckt. Sie scheint in unsere Richtung zu sehen und wir meinen ein leises Kichern zu hören. Langsam bewegt sie sich auf uns zu, wobei sie jedoch stets mit den Gewächsen am Boden verwurzelt zu bleiben scheint. „Eine Blütenfee“, raunt Eskel und legt die Hand an den Griff seines Schwertes. Ich sende ihr eine magische Botschaft, in welcher ich sie freundlich Grüße und ihr mitteile, dass wir mit guten Absichten kommen. „Seit Jahren, Jahrzehnten vielleicht, habe ich keinen Menschen, keinen Halbling, keinen Zwergen mehr gesehen. Doch in den letzten Wochen hat sich vieles hierher verirrt, so wie auch ihr. Alles fand den Tod, hier bei uns.“ Es handelt sich um dieselbe Stimme, welche vor Kurzem zu uns sprach und uns aufforderte sie aufzusuchen. Die Fee spricht leise, fast flüsternd und ich antworte ihr betont gelassen. „Das ist bedauerlich, wir haben nicht vor diesem Schicksal zu folgen.“ „Diese Wahl stellt sich euch nicht.“ Dies klingt fast wie eine Drohung. Sie redet von einer Königin des Zwielichtreiches namens Roswen, welche ihren Schilderungen zur Folge über große Macht verfügt und jegliche Eindringlinge in ihr Reich zur Strecke bringen lässt. Da wir niemals beabsichtigt hatten diesen mysteriösen Wald aufzusuchen, bieten wir eine friedliche Lösung an. Es brauche uns nur ein Weg aus diesem Wald gewiesen werden und wir würden nicht zögern ihn umgehend einzuschlagen. Doch sie scheint nicht daran interessiert uns zu helfen und den Konflikt zu entschärfen. „Der Weg zurück wird euch verwehrt. Für immer.“ Wenn uns die Fee in dieser Hinsicht schon nicht helfen will, so hoffen wir doch auf einige Informationen über diesen Ort, das Zwielichtreich, zu erlangen. Sie berichtet, dass wir uns im Osten von Roswens Residenz, einem Turm, befinden würden. Währenddessen weist sie uns einige Male eindringlich darauf hin die Blumen nicht anzurühren. Sie scheint sie zu lieben, als wären es ihre eigenen Kinder. Auch erwähnt sie einen Rosenhain, welcher sich ebenfalls in ihrer Obhut befindet. Wir fragen sie nach dem ‚Tier‘ mit Geweih und Hufen, woraufhin sie hellhörig wird. „Der König des Waldes. Da habt ihr eine außerordentliche Bekanntschaft gemacht. Er kam mit Roswens Schwester. Diese Kreatur, sie bringt Unheil, bringt den Tod. Warum hat sie euch nicht längst …“ „Roswens Schwester?“, fragt Ava und in ihrer Stimme schwingt schon eine ungute Vorahnung. „Gar nicht lang ist es her, da kam sie zu uns. Sie waren einst vereint und nun, nun sind sie es wieder. Vieles hat sich verändert seither. Das Zwielichtreich lebt, seht selbst, es blüht, und doch bin ich neuerdings gezwungen meine Hände schmutzig zu machen.“ „Wer zwingt euch?“, fragt Eskel. „Lucretia!“
Ein rascheln hinter uns und als wir herumfahren nehmen wir eine schnelle Handbewegung der Blütenfee war. Uns bleibt kaum Zeit zum Handeln. Vier große Spriggan stürmen aus dem Dickicht auf uns zu und aus dem Boden sprießen Ranken, welche sich um unsere Knöchel schlingen und an Ort und Stelle fesseln. Eskel zieht erbost seine Klinge, welche im Angesicht der Fee leise surrt. Mit einem kräftigen Tritt befreit er sich von den lästigen Pflanzen und eilt der Blütenfee entgegen ohne Rücksicht auf ihre heiligen Blumen zu nehmen. Ihre bis zu diesem Zeitpunkt entspannte Mine verfinstert sich umgehend. Erzürnt versucht sie ihn mit einem Zauber aufzuhalten, doch er kann den Effekt abschütteln. Daraufhin ergreift sie die Flucht vor dem herannahenden Feind. Mir gelingt es nicht die Pflanzen abzuschütteln, weshalb ich mich dem Angriff der Spriggan ausgeliefert sehe. Schnell mache ich mich unsichtbar und belege zwei der Kreaturen mit einem Zauber, welcher ihre Bewegungen verlangsamt. Ava kann sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen und wird unter dem Leib eines sich auf sie stürzenden Spriggan begraben. Magnis Hammer wirbelt durch die Luft, trifft einen, dann einen zweiten Kopf und zertrümmert auch das Rückgrat von Avas Angreifer. Grunda Holler kann die Ranken ebenfalls geschickt abschütteln und den letzten Spriggan aufspießen, welcher gerade im Begriff ist sich auf den Zwergen zu stürzen. Eskel hat unterdessen die Verfolgung aufgenommen, doch es scheint aussichtslos, weshalb er ihr Pfeile hinterher schießt. Ava, welche sich unter dem toten Ungetüm freigekämpft hat, schickt der Blütenfee einige Blitzkugeln hinterher, doch auch diese können sie nicht aufhalten. Als die Fee sich nach ihrem Verfolger umsieht, erschaffe ich eine tiefe Grube. Tatsächlich geht der Plan auf und die Fee stürzt hinein. Doch noch bevor der Alchemist den Rand der Grube erreichen kann, erhebt sich eine Eule aus dem Loch im Boden, dreht eine kleine Runde und verwandelt sich zurück in die Fee. Im nächsten Moment gleitet diese in den Boden, scheint eins mit ihm zu werden und bleibt daraufhin verschwunden. Wütend stapft Ava zu der Stelle, an welcher unsere Kontrahentin soeben verschwand und zertritt dabei möglichst viele der Veilchen. Doch die Provokation bleibt folgenlos, die Blütenfee zeigt sich kein weiteres Mal.
Von der Lichtung aus können wir die Berge, von welchen Ava uns bereits berichtete, in großer Entfernung erspähen. Wir scheinen uns in einem sich verjüngenden Tal zu befinden, an dessen Ende ein gigantisches Bauwerk in den Himmel ragt. Ist das der Turm, von welchem die Fee sprach, der Turm, in welchem Roswen, die Königin des Zwielichtreiches residiert? Er ist erleuchtet, als ob gebündelte Sonnenstrahlen auf ihn fielen. Tatsächlich aber scheint das Gebäude selbst zu leuchten. Ein strahlendes Monument in den Bergen, welches über den Wald wacht. Der Bach, welchem wir bis hierher gefolgt sind, mündet nicht weit vom Blumenfeld in einen reißenden Fluss. Wir wandern ein wenig am Ufer entlang. Noch sind wir etwas unschlüssig, doch in jedem von uns keimt dieselbe Erkenntnis. Wir wissen nicht wie wir diesen Wald verlassen können, wenn dies überhaupt möglich ist. Wir wissen nicht, wie sich das Zwielichtreich ausbreitet und wie eine weitere Ausdehnung aufgehalten werden kann. Jede Kreatur, welcher wir bisher begegnet sind, versuchte uns umzubringen. Der Turm Roswens scheint das Zentrum, der Ausgangspunkt des Zwielichtreiches zu sein. Dort warten vermutlich unsere mächtigsten Feinde, aber womöglich auch die Antworten auf unsere brennendsten Fragen. Um dorthin zu gelangen, müssen wir den Fluss überqueren.
Während wir so in Gedanken versunken sind, macht Grunda uns auf sich bewegende Lichter am Himmel aufmerksam. Mit zusammengekniffenen Augen blicken wir der merkwürdigen Formation entgegen, welche sich in einem Sturzflug auf uns zu bewegt. Und dann wieder die Stimme aus dem Nichts: „Ihr könnt euch nicht verstecken. Ihr könnt nicht entkommen. Wir werden euch zur Strecke bringen.“ Erschrocken machen wir uns kampfbereit. Wenige Augenblicke später erkennen wir, dass es sich bei den größer werdenden Lichtpunkten um Schwärme von hunderten winzigen Feengeistern handelt. Wir laufen auseinander, versuchen uns zu verteilen, damit die kleinen Biester uns nicht alle zugleich attackieren können. Eskel wirft eine Bombe in Richtung des Schwarms, Ava schickt ihnen einen Windstoß entgegen, welcher sie ordentlich durchschüttelt und ich richte einen Zauberstab gegen sie, aus welchem ein Flammenkegel schießt. Die kleinen Wesen sehen aus wie Jahlefitz, den Vertrauten Lucretias. Jedes der Wesen leuchtet, wodurch der Wald um uns herum in gleißendem Licht liegt und es schwer fällt sie aus kurzer Distanz direkt anzusehen. Mit kleinen, gezackten, metallischen Gegenständen stürzen sie sich auf uns und bohren diese in unsere Haut. Grunda und Magni sind ratlos, können mit Hammer und Schwert wenig gegen die hunderten Angreifer ausrichten. Die Windstöße und Blitze der Halblingsdame treiben die Feengeister jedoch auseinander dezimieren sie deutlich. Dann tauchen zwischen den Bäumen auch noch zwei Spriggan auf. Ich will sie mit einem Zauber aufhalten und kann so nicht dem sich nährenden Schwarm ausweichen. Das gleißende Licht blendet mich, mir wird schwarz vor Augen. Blind wirke ich meinen Zauber in die ungefähre Richtung der Spriggan und flüchte daraufhin in die entgegengesetzte Richtung, mit den Armen um mich rudernd, um nicht gegen den nächsten Baum zu laufen. Aber auch diesen Kampf können wir innerhalb kurzer Zeit für uns entscheiden. Magni und Grunda nehmen sich der Spriggan an, die Bomben Eskels und die Zauber Avas erledigen die restlichen Feengeister.
3. Flucht aus den Flammen
Unsere Körper sind übersäht von kleinen Stichen und Schnitten, doch Ava flickt uns mit dem Heilerstab schnell wieder zusammen. Trotzdem sind wir erschöpft, fühlen uns ausgelaugt, obwohl erst wenige Stunden seit Tagesanbruch vergangen sind. Die verstörenden Eindrücke des Waldes, die Kämpfe mit den Spriggan und anderen Kreaturen, die Wanderung, die ständige Anspannung und das fehlende Sonnenlicht setzen uns zu. Aber wo können wir einen sicheren Unterschlupf zum Rasten finden? Es scheint so, als würden wir ständig überwacht, als könnten jederzeit und überall weitere Kreaturen auftauchen, welche uns als Eindringlinge in das ihrige Zwielichtreich betrachten und deshalb umgehend töten wollen. Ratlos suchen wir die nähere Umgebung ab. Als ich mich einem Gestrüpp nähere, vernehme ich ein Quaken. Ich halte inne – kann das sein? „Ubagub?“, frage ich vorsichtig. Dann erneut das vertraute Geräusch und wenig später blicke ich in ein großes Glubschauge, welches durch die Zweige späht. „Garuum, wir sind es! Freunde! Erinnerst du dich nicht?“ Er beäugt mich misstrauisch und kurz werde auch ich unsicher, könnte es sich doch um einen beliebigen Boggart handeln. Aber dann erblicke ich den krötenartigen Schlurk, dessen Geräusche ich vernommen hatte. Die zwei kämpfen sich aus dem Gestrüpp und machen einige vorsichtige Schritte auf uns zu. „Wieso ihr hier? Was hat geleuchtet im Wald? Ihr geleuchtet im Wald?“ Meine Freude die zwei absonderlichen Kreaturen wieder zu treffen ist mir nicht ganz begreiflich. Vermutlich bin ich einfach nur froh jemanden aus der uns bekannten Welt zu erblicken, eine Verbindung nach draußen. Jemanden, welcher sich nicht umgehend auf uns stürzt, um uns grundlos zu töten. Wir erklären den beiden was es mit dem Leuchten auf sich hatte und erfahren, dass auch sie unbeabsichtigt an diesen Ort gelangt sind. „Wie lange seid ihr schon hier“, frage Ava interessiert. „Kein Tag. Nacht ist. Immer Nacht ist.“ Tatsächlich scheinen sie sich schon eine ganze Weile im Zwielichtreich durchzuschlagen, was uns Mut macht. Zwar haben sie in keiner Weise begriffen was hier vor sich geht, trotzdem sind ihre Erfahrungen für uns hilfreich. Sie berichten vom Turm, an welchem es anscheinend Tiere gibt. Dort jagen die beiden Vögel, um sich zu ernähren. Wie auch wir bereits festgestellt haben lauern überall Gefahren. Sie warnen uns vor der Eule, wo sie auftauche sein man nicht sicher. Einen Ausweg haben sie aber auch noch nicht gefunden. Das Problem, vor welchem wir nun stehen, einen sicheren Unterschlupf zu finden, haben sie auf originelle Weise gelöst. Die beiden können unter Wasser schlafen und im Fluss scheinen sie nicht aufgefunden zu werden. Merkwürdigerweise erwachen sie, obwohl sie stetig von der Strömung abgetrieben werden, immer an den selben Orten. Als würde der Fluss im Kreis fließen. Leider hilft uns das nicht weiter. Ava kann sich zwar in einen Fisch oder ähnliches verwandeln und Eskel ist in der Lage über mehrere Stunden seinen Atem anhalten, für Magni, Grunda und mich bietet das Wasser jedoch nicht die Möglichkeit uns zu verstecken. Zu ärgerlich, dass ich über keine Möglichkeit verfüge uns über längere Zeit auf magische Weise zu verbergen. In der Narlmark waren wir zu keiner Zeit auf derartige Vorsichtsmaßnahmen angewiesen. Als letzte und einmalige Möglichkeit habe ich eine Schriftrolle im Gepäck. Mit dieser ist es mir möglich eine Hütte zu beschwören, welche mit allerlei Schutzmechanismen ausgestattet ist. Diese mag sicher sein, aber kann uns keineswegs verstecken. Eine große Hütte mitten dieses Waldes wird unsere Widersacher anziehen wie ein Magnet. Als ich vorsichtig auf diese Option zu sprechen kommen, zeigen meine Gefährten weit weniger Bedenken. Sie sehen darin den idealen Unterschlupf und überreden mich letztlich eben jene Hütte herbeizuzaubern.
Als ich das Innere betrete, verfliegen angesichts der Annehmlichkeit einfacher Betten auch meine Bedenken. Wir teilen Nachtwachen ein und anschließend lege ich mich umgehend zur Ruhe. Nach wenigen Stunden werde ich von Magni geweckt. Er und Ava berichten davon den Ruf einer Eule gehört zu haben, ansonsten sei es still geblieben. Ich beziehe meinen Wachposten gemeinsam mit Eskel und spähe nach draußen. Es vergeht einige Zeit, doch dann geschieht etwas Merkwürdiges. Zwischen den Bäumen erscheint eine Kreatur, auf zwei Beinen mit Hufen gehend, muskuläre Arme wie ein Mann, den Kopf eines Hirsches, welcher von einem imposanten Geweih geschmückt wird. Das muss er sein, der König des Waldes. Doch sieht er nicht aus wie die Statue unter der Burg. Eskel und ich starren angespannt nach draußen. In einiger Entfernung zur Hütte bleibt die Kreatur stehen und blickt ruhig und ohne sich zu bewegen auf unseren Unterschlupf. Sie wendet den Blick nicht ab, ihre Augen scheinen blau zu leuchten, was ihnen etwas Durchdringendes verleiht. Als könne er sehen was hier, im Innern, vor sich geht. Eskel und ich mutmaßen, dass es sich um ein Eidolon handelt, ein Externar, welcher von einem Paktmagier herbeigerufen wird und diesem dient. Wir sind unentschlossen, was sollen wir tun? Zunächst wecken wir Magni. Als auch er die Hirschkreatur einige Minuten beobachtet hat, entgegnet er nur trocken. „Solange er tatenlos herumsteht, sehe ich keinen Grund irgendetwas zu unternehmen. Ich lege mich wieder schlafen.“
Tatsächlich passiert lange Zeit nichts, doch schließlich erscheint eine zweite, uns bekannte Gestalt. „Lucretia?“, flüstert Eskel ungläubig. Wir sehen uns irritiert an. So hätten wir uns ein Wiedersehen nicht vorgestellt. Zwar hatten wir es bereits geahnt, aber erst jetzt haben wir die Gewissheit. Lucretia scheint sich gegen uns zu stellen. Nicht viel erinnert an die Frau, welche uns einst um einen Gefallen bat. Diese Lucretia ist deutlich selbstbewusster und strahlt Erhabenheit und Macht aus. Doch was führt sie im Schilde? Kurz nach ihrem Eintreffen erscheinen erst einige wenige, dann immer mehr der kleinen Spriggan. Mit wenigen knappen Gesten werden sie von Lucretia angewiesen unsere Hütte ebenfalls in einigem Abstand zu umstellen. Schon nach wenigen Minuten haben sich zwei bis drei Dutzend von ihnen eingefunden. Auch sie starren regungslos auf die Hütte und machen keine Anstalten uns anzugreifen. Während ich mich noch mit Eskel leise berate, taucht eine weitere Gestalt auf. Der glatzköpfige Mann hat elfenähnliche Züge, seine Haut ist grau und er trägt edle dunkle Gewänder. Eskel weiß, dass es sich um einen Svartalfar handelt. Sie seien ebenfalls Feenwesen und gefürchtete Schwertkämpfer. Er bezieht neben Lucretia Stellung und wartet auch geduldig auf Anweisungen. Somit sind wir nun von Lucretia, dem ‚König des Waldes‘, dem Svartalfar und einer Vielzahl von Spriggan umstellt, welche entweder auf weitere Unterstützung warten oder davon ausgehen, dass wir mit ihnen Kontakt aufnehmen werden. Weshalb sollten sie sonst mit einem Angriff warten? Nun wecken wir unsere Freunde und berichten ihnen von unserer bedrohlichen und absonderlichen Lage. Ava und ich ziehen uns unverzüglich in eine ruhige Ecke zurück und bereiten unsere Zauber vor. Die anderen beraten in der Zwischenzeit, wie nun am geschicktesten vorzugehen sei. Während Magni und Eskel einen direkten Kampf scheinbar in Erwägung ziehen, hält Grunda dies für eine völlig abwegige Idee. Ava und ich bestätigen sie in dieser Einschätzung. Wir können es nicht mit einer derartigen Anzahl von Spriggan aufnehmen. Zudem ist davon auszugehen, dass Lucretia und die zwei Gestalten in ihrer Begleitung mächtige Gegner sind. Doch wie können wir fliehen? Ich kann mich gemeinsam mit zweien ein ganzes Stück weit weg teleportieren, der Avadler kann versuchen auf dem Luftweg zu entkommen und die letzte Person könnte ich verzaubern, sodass diese ebenfalls davonfliegen könnte. Mittels Unsichtbarkeit erhöhten sich die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Flucht. Doch sicher ist dies alles nicht, denn wir wissen nichts über die Kräfte Lucretias und ihrer beiden Begleiter. Bisher war ihr Handeln nicht berechenbar, sie könnte unseren Plan durchkreuzen. Doch ich habe noch eine Idee, einen mächtigen Zauber, welchen ich in Zusammenarbeit mit Ava wirken kann und der unsere Feinde erheblich schwächen sollte. Es ist nicht ohne Risiko, aber es scheint erfolgsversprechender als ein Angriff zu sein. Doch was spricht dagegen vorerst Kontakt mit Lucretia aufzunehmen? Wollte sie uns umgehend aus dem Weg schaffen, wäre sie bereits zum Angriff übergegangen. Nach kurzen Beratungen nehme ich also mit einem Zauber Kontakt mit ihr auf, sodass die Umstehenden Kreaturen unserem Gespräch nicht lauschen können.
„Guten Abend Lucretia“, ihre sich aufhellende Mimik verrät, dass sie meine Worte vernimmt, „wir sind freudig überrascht Sie nach einer so langen Zeit der Ungewissheit wohlauf wieder zu sehen. Loy wird von solchen Nachrichten ebenfalls hocherfreut sein.“ Bei der Erwähnung ihres Mannes zuckt sie merklich zusammen und ihr Blick wird für den Bruchteil einer Sekunde finster. Sofort lächelt sie aber wieder freundlich, als wolle sie sich nichts anmerken lassen. „Faquarl. Es freut mich ebenfalls von euch zu hören. Leider muss ich euch jedoch enttäuschen, der gute Loy wird eure Berichte wohl nicht entgegennehmen können.“ Wie auch schon in allen Gesprächen zuvor, wird uns auch nun wieder direkt mit unserem Tode gedroht. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung scheint schon jetzt zunichte. Aber irgendeinen Grund muss es geben dafür, dass wir noch nicht angegriffen wurden. Somit frage ich weiter, versuche herauszufinden was seit unserer letzten Begegnung, nein eigentlich schon davor, geschehen ist. Und natürlich welche Ziele Lucretia nun verfolgt. Zwar betont sie des Öfteren Gespräche mit uns über Nebensächlichkeiten nicht führen zu wollen und reagiert gereizt, wenn wir ihre Vergangenheit in Rezbinnen erwähnen, trotzdem gibt sie so Manches preis. Vermutlich aufgrund unserer aussichtslosen Lage, eine Jägerin, welche mit ihrer Beute spielt. Wie bereits erwartet war die Gründung Rezbinnens lediglich ein Vorwand dafür das mysteriöse Gewölbe unter der alten Burg genauer zu erkunden und einen Weg ins Zwielichtreich zu finden. Seit ihre dies letztes Jahr mit Hilfe unserer ‚naiven‘ Freunde gelang, verfolgt sie nur ein Ziel: Die Ausdehnung des Zwielichtreiches. Rezbinnen, die Narlmark, ganz Rivien ist dabei ein in Kauf zu nehmender Kollateralschaden. Sie hegt keinen Hass gegen uns, wir haben uns lediglich am falschen Fleck der Landkarte angesiedelt. Als ich die Sprache erneut auf ihren Mann bringe, macht sie deutlich, dass sie auch seinen Tod billigend in Kauf nehmen wird. Doch ich habe ihre erste Reaktion noch gut vor Augen. Gleichgültig ist es ihr sicherlich nicht, auch wenn sie sich dies einredet. Sie hat Schuldgefühle, davon gehe ich fest aus. Doch meine Freunde halten mich davon ab das Thema weiter zu vertiefen. Sie hoffen noch immer auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. Somit versuchen wir auch ihr zu erklären, dass wir keine Feinde wären, uns lediglich hierher verirrt hätte und daran interessiert sind einen Weg zurück zu finden. Doch auch sie weiß natürlich, dass wir Narlgaard und ganz Rivien mit allen Kräften verteidigen werden und betont, dass es für uns keinen Ausweg gäbe. Doch dann unterbreitet sie doch ein Angebot, welches jedoch ich nicht als solches bezeichnen würde. Wenn wir uns kampflos ergeben würden, ja dann würden wir vielleicht verschon und dürften ihrer Schwester Roswen dienen. Na das klingt ja mal nach einem verlockenden Vorschlag! Kampflos ergeben, um dann eventuell doch noch umgebracht zu werden oder in ewiger Gefangenschaft einer grausamen Herrscherin dabei zu helfen Narlgaard von der Landkarte zu radieren. Zu meinem Entsetzen denkt Eskel tatsächlich kurz darüber nach, ob diese Option zu bevorzugen sei. Eventuell weil sein klägliches Menschenleben nur noch wenige Jahrzehnte überdauern würde, wohingegen ich … Es kommt nicht in Frage und glücklicherweise können wir ihm diesen Gedanken auch schnell wieder austreiben, indem ich ihm anschaulich erkläre, dass eine Flucht aus einem magisch gesicherten Gefängnis nicht lediglich unwahrscheinlich, sondern gänzlich unmöglich ist. Über Lucretias Schwester Roswen, die Frau, welches sich Königin des Zwielichtreiches nennt, finden wir leider nicht viel heraus. Ziehen die beiden an einem Strang oder sind sie Konkurrentinnen? Diese Frage muss vorerst unbeantwortet bleiben, denn wir befürchten, dass nicht mehr viel Zeit bleibt unsere Flucht vorzubereiten. Konzentriert gehen wir noch einmal den von mir entwickelten Plan im Detail durch, dann wirken wir einige Zauber, welche uns die Flucht ermöglichen sollen und ich gebe Ava ein Zeichen.
Die Halblingsdame, welche bereits unsichtbar und in Gestalt eines Adlers ist, beschwört ihre Flammenkugel auf dem Dach der Hütte. Lucretia und die anderen Belagerer haben nur den Bruchteil einer Sekunde sich darüber zu wundern. Dann schießt eine Flammenfontäne, gespeist durch Avas Zauber, in die Höhe. Der Wald wird in orange-rotes Licht getaucht und ein Feuerregen geht auf unsere Gegner nieder. Wir hören entsetzte Ausrufe und die panischen Schreie brennender Spriggan. Noch bevor die letzten Glutbrocken zu Boden gefallen sind wiederhole ich den Zauber. Ein zweites Mal schießt eine Fontäne aus Feuer, welche die Baumkronen überragt, aus Avas Flammenkugel. Selbst das Innere der Hütte wird es für ein Moment hell erleuchtet, als das Licht durch Türspalt und Gucklöcher dringt. Viele der Spriggan sind nichts mehr als ein verkohltes Fleisch, die restlichen brennen lichterloh und alle unsere Gegner scheinen fürs erste durch das grelle Licht blind zu sein. Lucretia tastet hinter sich, berührt die Hirschkreatur, ihr Eidolon und sofort wachsen dieser Schwingen aus den Schulterblättern. Mit einem Satz springt er auf die Hütte zu und landet auf dem Dach. Der ‚König des Waldes‘ scheint als einziger noch über sein Augenlicht zu verfügen. Als ich mich nach meinen Freunden umsehe, Grunda und Magni am Arm packe, um mich gemeinsam mit ihnen auf die andere Seite des Flusses zu teleportieren, blicke ich in erschrockene Gesichter. Auch sie scheinen von dem gewaltigen Inferno überrascht zu sein. Ich wirke den Zauber uns sehe gerade noch, wie eine grässliche Kreatur von Lucretia beschworen wird. Ausgemergelter, drahtiger Körper, schwarze, ledrige, von Schleim bedeckte Haut und das hämische Grinsen offenbart lange, spitze Zähne. Im nächsten Moment finden wir uns in einigen hundert Metern Entfernung wieder. Die Schreie verbrennender Spriggan hören wir nur noch aus weiter Ferne.
Vierundzwanzigste Sitzung am Sonntag, den 29. Oktober in Frankfurt.
Mit Tobi, Lena, Dominik, Lucas, Ilka und mir.
1. Ein uns unbekannter Wald
Es war nicht anders zu erwarten, wieder einmal verlassen wir die windschiefe Hütte der alten Hexe ratlos und mit mehr Fragen, als wir sie betreten haben. Doch zumindest schienen meine Bedenken, dass die alte Frau einen Groll gegen uns hegen und somit eventuell hinter dem Angriff des Teufels auf Narlgaard stecken könnte unbegründet. Sie zeigt weder für Raifs und seine Horde von Wilden, noch für unsere Aktivitäten im Grüngürtel sonderlich großes Interesse, sondern widmet ihre Aufmerksamkeit nur ihrem kleinen, abgeschiedenen flecken Land. Selbst vom herannahenden Nebel zeigte sie sich gänzlich unbeeindruckt! Entweder ist sie wirklich diesen Gefahren überlegen oder sie hat alles was kommen mag bereits akzeptiert und gibt sich diesem schicksalsergeben hin. Dieses Desinteresse an all jenen Geschehnissen ist aber auch der Grund, weshalb unsere dringlichsten Fragen gänzlich unbeantwortet blieben.
Wir verabschieden uns auch von Moraven und Layra. Die beiden werden nach Narlgaard zurückkehren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Wir hingegen machen uns auf den Weg hinein in den Wald, hinein in den Nebel. Durch das Gespräch ist unsere Vermutung bekräftigt worden, der Nebel könne in Verbindung mit der Statue und Apparatur unter der alten Burg stehen, in welcher sich die Hobgoblins aufhielten. Unseren Schätzungen zur Folge, müssten wir diesen Ort zu Fuß binnen fünf Tagen erreichen. Mit dem von geisterhaften Pferden gezogenen Wagen fahren wir bei am Hauerwasser entlang und an der ehemaligen Siedlung der Echsenmenschen vorbei, bis wir auf die Nebelwand stoßen. Als wir unser Gefährt stoppen, vernehmen wir wenige Momente später die uns vertraute Stimme Perliwashs. Der Feendrache ist sichtlich erschöpft. Er scheint uns schon seit einigen Minuten gefolgt zu sein, konnte unser Gespann jedoch nicht einholen. Nach Luft schnappend fragt er was uns hierher verschlägt. „Da geht es nicht weiter, dort ist dieser entsetzliche Nebel. Ihr wollt doch nicht etwa da rein? Niemand der ihn betreten hat ist jemals wieder rausgekommen.“ Aber wir lassen uns von den warnenden Worten unseres kleinen Freundes nicht abbringen. Sodann beginnt er uns von seinen Abenteuern zu erzählen. Momentan verfolgt Perliwash die Fährte eines Wildschweins. In den letzten Tagen habe er es mehrfach mit seinen Zaubertricks geärgert, jetzt wolle er es jagen. „Jagen? Wofür? Du kannst doch kein ganzes Wildschwein verdrücken“, gibt Ava zu bedenken, „Ich glaube Wildschweine sind treue Seelen, du könntest dich mit ihm anfreunden, dann hast du einen Gefährten hier im Wald.“ Die Idee scheint dem Feendrachen zu gefallen und voller Tatendrang verschwindet er kichernd im Wald. Da es bereits dämmert entscheiden wir in sicherem Abstand zum Nebel, am Ufer des Murks unser Lager aufzuschlagen. In der Nacht bleibt es ruhig und so können wir am nächsten Morgen ausgeruht aufbrechen. Wir alle sind angespannt, wissen doch nicht was uns erwarten wird. Nur schwer kann ich mir vorstellen über Tage nicht weiter als bis zu meinen Fingerspitzen blicken zu können. Damit wir uns nicht verlieren, werden zwei Seile aneinander gebunden und an unseren Gürteln befestigt. So aneinandergekettet machen wir uns wie ein kleiner Trupp Sträflinge, den Murks immer direkt zu unserer Linken auf den Weg in Richtung der grauen, undurchdringlichen Masse.
Nach wenigen Metern ist der Nebel so dicht, dass ich Grunda vor und Eskel hinter mir nicht mehr sehen kann, sondern nur noch dem Seil folge. Es wird merkwürdig dunkel, als würde der Nebel das Licht verschlucken und uns umgibt ein silbriges Zwielicht. Ich hoffe darauf, dass Magni, welcher in Front läuft, den rechten Weg einschlagen wird. Bereits nach wenigen Minuten erkenne ich wieder die Umrisse von Grunda Holler. Der Nebel scheint hier weniger dicht. Es dauert nicht lange, da haben sich die Schlieren gänzlich verzogen und wir können uns wieder ungehindert umsehen. Wie kann das sein? Handelt es sich etwa nur um einen Ring aus Nebel? Doch gemeinsam mit Ava bin ich noch gestern in die Lüfte aufgestiegen und wir beide haben ein gigantisches Nebelfeld erblicken können. Doch hier herrschen keineswegs normale Lichtverhältnisse. Es scheint Nacht zu sein, obwohl wir vor wenigen Momenten mit den ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen sind. Der Wald ist aber durch den Sternenhimmel erleuchtet, welcher uns gänzlich unbekannt ist und die Quelle des Zwielichtes zu sein scheint. So viele Sterne haben wir noch nie gesehen. Wo sind wir? Mir schießt wieder das Bild Lucretias durch den Kopf, wie sie durch das Portal schreitet, im Hintergrund ein hell erleuchteter Sternenhimmel. Aber ich bin mir keineswegs sicher, ob es dabei eine Verbindung gibt, zu kurz war der Moment und zu lang ist dies nun her. Der Avadler unternimmt einen Erkundungsflug, während wir den Wald inspizieren. Dieser scheint völlig real und dem uns bekannten Wald zu entsprechen. Magni fällt einen kleinen Baum und begutachtet das Ergebnis. Eine schwarze, ölige und klebrige Substanz quillt hervor. Sie riecht nach Süßholz, scheint nicht giftig und auch nicht magischen Ursprungs zu sein. Eskel ist verblüfft, als er achtundsechzig Baumringe zählt, schien die Pflanze doch sehr jung zu sein. Der Alchemist macht uns auch darauf aufmerksam, dass es gänzlich still ist und sich auf dem Waldboden keine Insekten tummeln. Tatsächlich können wir keine Tiere, nicht die allerkleinsten entdecken. Auch im Fluss scheinen keine Fische zu schwimmen. Schließlich stößt Ava wieder zu uns und berichtet, dass weit und breit nichts von dem Nebel zu sehen sei. Der hell erleuchtete Nachthimmel hat es ihr ermöglicht fast wie bei Tage zu sehen. Überall um uns herum ist nur der dichte Wald. Auch im Südosten, wo sich doch eigentlich die Hügel der Kamelande erstrecken sollten. Im Süden sei ein See zu sehen und im Westen ein Gebirgszug. Ganz offensichtlich befinden wir uns nicht mehr in der Narlmark, ja nicht mal mehr im Grüngürtel. Denn die Beschreibung läuft all unseren Aufzeichnungen zuwider. Doch ich kann keine Anzeichen entdecken, welche darauf schließen lassen, dass wir uns auf einer anderen Existenzebene befinden. Haben wir etwa unbemerkt und unfreiwillig durch das Betreten des Nebels eine Reise durch Raum und Zeit unternommen?
Wir sind etwas verstört. Von einem Augenblick auf den andern hat sich der Nebel und damit unser Problem in Luft aufgelöst, doch gleichzeitig scheinen wir nun mit ganz andern, noch undurchsichtigeren Problemen konfrontiert. Während wir überlegen, ob es sinnvoll wäre den Murks – handelt es sich denn überhaupt noch um den uns bekannten Fluss? – wieder einige hundert Meter in entgegengesetzte Richtung entlang zu laufen, um herauszufinden, ob wir auf diesem Weg wieder zurück in den Nebel und schließlich auch zurück in die uns bekannte Umgebung gelangen, schrecken wir plötzlich durch den Klang unbekannter Stimmen auf. Ava, welche der Sprache dieser Wesen mächtig ist, weiß dass wir von diesen entdeckt wurden und wir uns somit nicht mehr in Sicherheit bringen können. Zwischen den Baumstämmen tauchen eben jene Kreaturen auf, welche Rezbinnen mehrfach heimgesucht haben. „Verfluchte Spriggan“, grummelt Magni in seinen Bart und zieht seinen Hammer. Schnell wirke ich einen Zauber, welchen ich in den letzten Tagen studiert habe und gebe meinen Freunden die Anweisung die Angreifer erst einmal nicht zu attackieren. Sollte der Zauber seine Wirkung entfalten, werden unsere verwirrten Gegner uns voraussichtlich nicht angreifen und sich eventuell sogar gegenseitig bekämpfen. Doch Ava scheint meine Anweisung nicht gehört oder nicht verstanden zu haben – beides an sich unmöglich – aber anders erschließt es mir nicht, weshalb sie einen Regen aus Gesteinsbrocken auf die Spriggan niedergehen lässt. Dies verhindert natürlich die Wirkung meines Zaubers und bringt Ava in große Gefahr, da unsere Feinde sie nun unverzüglich angreifen werden. Auch Grunda Holler schaltet nicht schnell genug und versenkt ihren Rapier tief in der Brust eines Spriggan. Zumindest einer der Angreifer ist von meinem Zauber betroffen und schlitzt sich selbst den Arm auf. Grunda kann einen erneuten Treffer landen und auch Eskel macht mit einem der Angreifer kurzen Prozess. Doch ich war einen Moment lang unaufmerksam und werde von der Pranke eines Spriggans hart getroffen. Dieser ergreift und reißt mich von den Füßen in die Luft. Erschrocken versuche ich aus meinem Beutel Farben hervorzuholen, um die Kreatur zu betäuben. Doch diese schleudert mich wütend herum, wodurch das ich das bunte Pulver lediglich auf dem Waldboden verteile. Ava ist glücklicherweise geistesgegenwärtig, eilt herbei, bekommt meinen Fuß zu fassen und verwandelt meinen Körper zu Gas. Der Spriggan ist verdutzt, als ich plötzlich seinen mächtigen Klauen entschwinde und wird im nächsten Moment von Grundas Schwert aufgespießt. Magni kann unterdessen den Kampf gegen eine besonders kräftige Kreatur für sich entscheiden und auch der letzte Angreifer ist schnell besiegt.
Wir haben einen ersten Angriff abwehren können, doch wer mag voraussehen ob weitere folgen werden? Oder muss die Frage vielmehr lauten: Wie viel Zeit bleibt uns bis zum nächsten Angriff? Denn woher wussten die auf sonderbare Weise entstellten Wesen von unserem Aufenthaltsort? Wir hatten den Nebel, welcher nun nicht mehr vorhanden ist, doch erst kurze Zeit zuvor betreten. Zufall? Unwahrscheinlich. Doch weshalb greifen sie uns überhaupt an? Vielleicht sind sie tatsächlich besessen, das hatten schon Perliwashs Worte nahegelegt. Oder sie werden von jemandem – oder von etwas – gesteuert. Wir wollen jedenfalls herausfinden was es mit unseren höchst besorgniserregenden Entdeckungen auf sich hat und laufen daher in entgegengesetzte Richtung am Bach entlang. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, müssten wir innerhalb kürzester Zeit wieder auf den Nebel stoßen, um uns kurz darauf wieder in dem uns bekannten Wald, der Narlmark, wiederzufinden. Doch ich bin keineswegs überrascht, als ebendies nicht eintritt. Der Weg, welcher uns hierher geführt hat, führt uns nicht wieder heraus. Unsere Spuren werden mit jedem Schritt undeutlicher, bis Eskel und Ava sie schließlich nicht mehr ausmachen können.
Während meine Gefährten noch mit der Situation hadern, nehme ich diese als gegeben hin. Doch begreifen kann ich die Tatsachen nicht, mit welchen wir konfrontiert sind. Unseren Beobachtungen nach befinden wir uns nicht mehr auf der uns bekannten Ebene. Doch wann sollen wir diese verlassen haben? Gab es einen Zeitpunkt, an welchem wir nach dem Betreten des Nebels hätten umkehren können? Mit welchem Schritt haben wir eine neue Ebene betreten? War der Nebel eine Art Übergangsbereich zwischen den Ebenen? Dann müsste eben dieser nun auch aufzufinden sein, denn die Spriggan waren in der Lage den Nebel zu verlassen, als sie Rezbinnen angriffen. Nein, ein Ebenenwechsel scheint nicht stattgefunden zu haben.
Wir machen kehrt und sind ein wenig erleichtert, als wir zumindest die toten Körper der Spriggan wiederentdecken. Zumindest scheinen wir nun wieder am selben Ort zu sein und die Gesetze von Raum und Zeit nicht vollständig außer Kraft gesetzt. Als ich die Frage nach einem konkreten Plan in den Raum werfe, meinen meine Freunde an dem bisher beschlossenen Vorgehen festhalten zu wollen. Ich deute an, dass dieser Plan im Angesicht völlig neuer Umstände wohl nicht mehr geeignet ist unsere Ziele zu erreichen. Dieser sah vor am Murks entlang bis zur Burg vorzudringen, welche wir im Zentrum des Nebels vermuteten. Doch es gibt keinen Nebel mehr, der Wald um uns herum ist nicht die Narlmark, der Bach, welchem wir folgen, nicht der Murks. Wir sind zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Hier eine Burg aufzusuchen, sei in etwa so erfolgsversprechend, wie eine Suche nach Olegs Handelsposten in Numeria mit Hilfe einer Karte von Absalom. Grunda schaut mich daraufhin verständnislos an, Eskel nickt anerkennend und Ava meint spöttisch: „Also dort entlang?“ Und zeigt in eine beliebige Richtung. „Na sieh mal, du hast doch selbst keine Ahnung wohin es gehen soll. Damit ist es auch nicht verkehrter diesen Weg einzuschlagen. Und am Bach können wir uns orientieren.“ Das stimmt natürlich und ich muss eingestehen keine bessere Idee zu haben. Somit folgen wir dem Bachlauf durch den Wald.
2. Todesdrohungen
Während wir die stille Gegend entlang wandern, stellt Grunda ununterbrochen Fragen. Wie sind wir hierher gekommen? Wie kommt man von hier weg? Warum gibt es hier keine Tiere? Woher kommen die Spriggan und handelt es sich bei ihnen um böse Kreaturen? Anfangs versuche ich ihr die Fragen, auf welche ich zumeist keine passende Antwort habe, mit gedämpfter Stimme zu beantworten. Dabei achte ich darauf sie mit meinen Antworten nicht zu verstören. Doch mit jeder Frage werde ich gereizter, ärgere mich über mein Unwissen, denn ihre Fragen sind zumeist auch die meinen. Zudem fühle ich mich hier unwohl, habe das Gefühl ununterbrochen beobachtet zu werden. Und plötzlich hält Magni inne und meint tatsächlich etwas im Gebüsch erblickt zu haben. „Ein Hirschgeweih?“, fragt Eskel ungläubig. „Ich bin mir sicher, es war genau hier.“ Der Zwerg deutet auf einen nahegelegenen Strauch. Auch meine Zweifel verfliegen, als Ava auf dem Boden zwischen den Ästen Spuren von Hufen entdeckt. „Dann scheint es hier also doch Tiere zu geben“, folgert der Zwerg. „Oder es war kein Tier“, gebe ich zu bedenken. „Erst der Hirschkönig, dann die eiserne Statue, welche ebenfalls ein Geweih und die Aufschrift ‚König des Waldes‘ trug und nun das“, murmelt Eskel. Das ist in der Tat äußerst merkwürdig. Und die Statue in der alten Burg steht mit dem Verschwinden Lucretias und unserer ersten unbeabsichtigten Reise an einen anderen Ort, den Mahlstrom, in noch ungeklärtem Zusammenhang. Während wir so hin und her überlegen und sich mit jeder Verknüpfung mehr Fragen auftun als klären lassen, vernehmen wir plötzlich eine unbekannte weibliche Stimme. „Ihr habt euch verlaufen.“ Erschrocken fahren wir herum, spähen in den Wald, können aber niemanden entdecken. „Was sucht ihr hier? Ihr werdet hier nicht lange überleben. Dieser Ort ist keiner für euch. Versteckt euch. Oder kommt zu mir und meiner Herrin. Wir werden euch an einen schöneren Ort führen.“ Die Stimme, das habe ich mittlerweile erkannt, wird mittels des Zaubers Windgeflüster von einem anderen Ort zu uns getragen. Unsere Erwiderungen bleiben folglich ungehört. Zudem scheint mein Unbehagen berechtigt gewesen zu sein. Offensichtlich werden wir von jemanden beobachtet. Doch was sollte diese Nachricht? Uns verunsichern, Angst einjagen? Denn eine Wegbeschreibung ist sie uns schuldig geblieben.
Somit setzen wir den eingeschlagenen Weg durch den vom Sternenhimmel erleuchteten Wald fort. Unsere suchenden Blicke wandern von Baum zu Baum, denn wir befürchten, dass die bösartigen kleinen Spriggan sich verborgen halten und auf einen günstigen Zeitpunkt für einen Angriff lauern könnten. Doch es bleibt gespenstig still im Wald, kein Wind, kein Blätterrascheln, keine Vogelrufe. Nur das Klappern von Magnis Rüstung und unsere Schritte auf dem Waldboden. Nach wenigen Stunden Marsch und einigen kleineren Pausen erblicken wir aus der Ferne eine Lichtung, welche in violettes Licht getaucht ist. Erst als wir uns vorsichtig nähern, erkennen wir, dass es sich um eine von schimmernden Veilchen übersäte Wiese handelt. Gerade als die Halblingsdame an den Rand der Lichtung tritt und eine der Blumen pflücken will, erhebt sich in einiger Entfernung inmitten der violetten Blüten eine Gestalt. Sie ähnelt einer Frau, doch der Körper ist von Ranken und wurzelartigem Gewächs bedeckt. Sie scheint in unsere Richtung zu sehen und wir meinen ein leises Kichern zu hören. Langsam bewegt sie sich auf uns zu, wobei sie jedoch stets mit den Gewächsen am Boden verwurzelt zu bleiben scheint. „Eine Blütenfee“, raunt Eskel und legt die Hand an den Griff seines Schwertes. Ich sende ihr eine magische Botschaft, in welcher ich sie freundlich Grüße und ihr mitteile, dass wir mit guten Absichten kommen. „Seit Jahren, Jahrzehnten vielleicht, habe ich keinen Menschen, keinen Halbling, keinen Zwergen mehr gesehen. Doch in den letzten Wochen hat sich vieles hierher verirrt, so wie auch ihr. Alles fand den Tod, hier bei uns.“ Es handelt sich um dieselbe Stimme, welche vor Kurzem zu uns sprach und uns aufforderte sie aufzusuchen. Die Fee spricht leise, fast flüsternd und ich antworte ihr betont gelassen. „Das ist bedauerlich, wir haben nicht vor diesem Schicksal zu folgen.“ „Diese Wahl stellt sich euch nicht.“ Dies klingt fast wie eine Drohung. Sie redet von einer Königin des Zwielichtreiches namens Roswen, welche ihren Schilderungen zur Folge über große Macht verfügt und jegliche Eindringlinge in ihr Reich zur Strecke bringen lässt. Da wir niemals beabsichtigt hatten diesen mysteriösen Wald aufzusuchen, bieten wir eine friedliche Lösung an. Es brauche uns nur ein Weg aus diesem Wald gewiesen werden und wir würden nicht zögern ihn umgehend einzuschlagen. Doch sie scheint nicht daran interessiert uns zu helfen und den Konflikt zu entschärfen. „Der Weg zurück wird euch verwehrt. Für immer.“ Wenn uns die Fee in dieser Hinsicht schon nicht helfen will, so hoffen wir doch auf einige Informationen über diesen Ort, das Zwielichtreich, zu erlangen. Sie berichtet, dass wir uns im Osten von Roswens Residenz, einem Turm, befinden würden. Währenddessen weist sie uns einige Male eindringlich darauf hin die Blumen nicht anzurühren. Sie scheint sie zu lieben, als wären es ihre eigenen Kinder. Auch erwähnt sie einen Rosenhain, welcher sich ebenfalls in ihrer Obhut befindet. Wir fragen sie nach dem ‚Tier‘ mit Geweih und Hufen, woraufhin sie hellhörig wird. „Der König des Waldes. Da habt ihr eine außerordentliche Bekanntschaft gemacht. Er kam mit Roswens Schwester. Diese Kreatur, sie bringt Unheil, bringt den Tod. Warum hat sie euch nicht längst …“ „Roswens Schwester?“, fragt Ava und in ihrer Stimme schwingt schon eine ungute Vorahnung. „Gar nicht lang ist es her, da kam sie zu uns. Sie waren einst vereint und nun, nun sind sie es wieder. Vieles hat sich verändert seither. Das Zwielichtreich lebt, seht selbst, es blüht, und doch bin ich neuerdings gezwungen meine Hände schmutzig zu machen.“ „Wer zwingt euch?“, fragt Eskel. „Lucretia!“
Ein rascheln hinter uns und als wir herumfahren nehmen wir eine schnelle Handbewegung der Blütenfee war. Uns bleibt kaum Zeit zum Handeln. Vier große Spriggan stürmen aus dem Dickicht auf uns zu und aus dem Boden sprießen Ranken, welche sich um unsere Knöchel schlingen und an Ort und Stelle fesseln. Eskel zieht erbost seine Klinge, welche im Angesicht der Fee leise surrt. Mit einem kräftigen Tritt befreit er sich von den lästigen Pflanzen und eilt der Blütenfee entgegen ohne Rücksicht auf ihre heiligen Blumen zu nehmen. Ihre bis zu diesem Zeitpunkt entspannte Mine verfinstert sich umgehend. Erzürnt versucht sie ihn mit einem Zauber aufzuhalten, doch er kann den Effekt abschütteln. Daraufhin ergreift sie die Flucht vor dem herannahenden Feind. Mir gelingt es nicht die Pflanzen abzuschütteln, weshalb ich mich dem Angriff der Spriggan ausgeliefert sehe. Schnell mache ich mich unsichtbar und belege zwei der Kreaturen mit einem Zauber, welcher ihre Bewegungen verlangsamt. Ava kann sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen und wird unter dem Leib eines sich auf sie stürzenden Spriggan begraben. Magnis Hammer wirbelt durch die Luft, trifft einen, dann einen zweiten Kopf und zertrümmert auch das Rückgrat von Avas Angreifer. Grunda Holler kann die Ranken ebenfalls geschickt abschütteln und den letzten Spriggan aufspießen, welcher gerade im Begriff ist sich auf den Zwergen zu stürzen. Eskel hat unterdessen die Verfolgung aufgenommen, doch es scheint aussichtslos, weshalb er ihr Pfeile hinterher schießt. Ava, welche sich unter dem toten Ungetüm freigekämpft hat, schickt der Blütenfee einige Blitzkugeln hinterher, doch auch diese können sie nicht aufhalten. Als die Fee sich nach ihrem Verfolger umsieht, erschaffe ich eine tiefe Grube. Tatsächlich geht der Plan auf und die Fee stürzt hinein. Doch noch bevor der Alchemist den Rand der Grube erreichen kann, erhebt sich eine Eule aus dem Loch im Boden, dreht eine kleine Runde und verwandelt sich zurück in die Fee. Im nächsten Moment gleitet diese in den Boden, scheint eins mit ihm zu werden und bleibt daraufhin verschwunden. Wütend stapft Ava zu der Stelle, an welcher unsere Kontrahentin soeben verschwand und zertritt dabei möglichst viele der Veilchen. Doch die Provokation bleibt folgenlos, die Blütenfee zeigt sich kein weiteres Mal.
Von der Lichtung aus können wir die Berge, von welchen Ava uns bereits berichtete, in großer Entfernung erspähen. Wir scheinen uns in einem sich verjüngenden Tal zu befinden, an dessen Ende ein gigantisches Bauwerk in den Himmel ragt. Ist das der Turm, von welchem die Fee sprach, der Turm, in welchem Roswen, die Königin des Zwielichtreiches residiert? Er ist erleuchtet, als ob gebündelte Sonnenstrahlen auf ihn fielen. Tatsächlich aber scheint das Gebäude selbst zu leuchten. Ein strahlendes Monument in den Bergen, welches über den Wald wacht. Der Bach, welchem wir bis hierher gefolgt sind, mündet nicht weit vom Blumenfeld in einen reißenden Fluss. Wir wandern ein wenig am Ufer entlang. Noch sind wir etwas unschlüssig, doch in jedem von uns keimt dieselbe Erkenntnis. Wir wissen nicht wie wir diesen Wald verlassen können, wenn dies überhaupt möglich ist. Wir wissen nicht, wie sich das Zwielichtreich ausbreitet und wie eine weitere Ausdehnung aufgehalten werden kann. Jede Kreatur, welcher wir bisher begegnet sind, versuchte uns umzubringen. Der Turm Roswens scheint das Zentrum, der Ausgangspunkt des Zwielichtreiches zu sein. Dort warten vermutlich unsere mächtigsten Feinde, aber womöglich auch die Antworten auf unsere brennendsten Fragen. Um dorthin zu gelangen, müssen wir den Fluss überqueren.
Während wir so in Gedanken versunken sind, macht Grunda uns auf sich bewegende Lichter am Himmel aufmerksam. Mit zusammengekniffenen Augen blicken wir der merkwürdigen Formation entgegen, welche sich in einem Sturzflug auf uns zu bewegt. Und dann wieder die Stimme aus dem Nichts: „Ihr könnt euch nicht verstecken. Ihr könnt nicht entkommen. Wir werden euch zur Strecke bringen.“ Erschrocken machen wir uns kampfbereit. Wenige Augenblicke später erkennen wir, dass es sich bei den größer werdenden Lichtpunkten um Schwärme von hunderten winzigen Feengeistern handelt. Wir laufen auseinander, versuchen uns zu verteilen, damit die kleinen Biester uns nicht alle zugleich attackieren können. Eskel wirft eine Bombe in Richtung des Schwarms, Ava schickt ihnen einen Windstoß entgegen, welcher sie ordentlich durchschüttelt und ich richte einen Zauberstab gegen sie, aus welchem ein Flammenkegel schießt. Die kleinen Wesen sehen aus wie Jahlefitz, den Vertrauten Lucretias. Jedes der Wesen leuchtet, wodurch der Wald um uns herum in gleißendem Licht liegt und es schwer fällt sie aus kurzer Distanz direkt anzusehen. Mit kleinen, gezackten, metallischen Gegenständen stürzen sie sich auf uns und bohren diese in unsere Haut. Grunda und Magni sind ratlos, können mit Hammer und Schwert wenig gegen die hunderten Angreifer ausrichten. Die Windstöße und Blitze der Halblingsdame treiben die Feengeister jedoch auseinander dezimieren sie deutlich. Dann tauchen zwischen den Bäumen auch noch zwei Spriggan auf. Ich will sie mit einem Zauber aufhalten und kann so nicht dem sich nährenden Schwarm ausweichen. Das gleißende Licht blendet mich, mir wird schwarz vor Augen. Blind wirke ich meinen Zauber in die ungefähre Richtung der Spriggan und flüchte daraufhin in die entgegengesetzte Richtung, mit den Armen um mich rudernd, um nicht gegen den nächsten Baum zu laufen. Aber auch diesen Kampf können wir innerhalb kurzer Zeit für uns entscheiden. Magni und Grunda nehmen sich der Spriggan an, die Bomben Eskels und die Zauber Avas erledigen die restlichen Feengeister.
3. Flucht aus den Flammen
Unsere Körper sind übersäht von kleinen Stichen und Schnitten, doch Ava flickt uns mit dem Heilerstab schnell wieder zusammen. Trotzdem sind wir erschöpft, fühlen uns ausgelaugt, obwohl erst wenige Stunden seit Tagesanbruch vergangen sind. Die verstörenden Eindrücke des Waldes, die Kämpfe mit den Spriggan und anderen Kreaturen, die Wanderung, die ständige Anspannung und das fehlende Sonnenlicht setzen uns zu. Aber wo können wir einen sicheren Unterschlupf zum Rasten finden? Es scheint so, als würden wir ständig überwacht, als könnten jederzeit und überall weitere Kreaturen auftauchen, welche uns als Eindringlinge in das ihrige Zwielichtreich betrachten und deshalb umgehend töten wollen. Ratlos suchen wir die nähere Umgebung ab. Als ich mich einem Gestrüpp nähere, vernehme ich ein Quaken. Ich halte inne – kann das sein? „Ubagub?“, frage ich vorsichtig. Dann erneut das vertraute Geräusch und wenig später blicke ich in ein großes Glubschauge, welches durch die Zweige späht. „Garuum, wir sind es! Freunde! Erinnerst du dich nicht?“ Er beäugt mich misstrauisch und kurz werde auch ich unsicher, könnte es sich doch um einen beliebigen Boggart handeln. Aber dann erblicke ich den krötenartigen Schlurk, dessen Geräusche ich vernommen hatte. Die zwei kämpfen sich aus dem Gestrüpp und machen einige vorsichtige Schritte auf uns zu. „Wieso ihr hier? Was hat geleuchtet im Wald? Ihr geleuchtet im Wald?“ Meine Freude die zwei absonderlichen Kreaturen wieder zu treffen ist mir nicht ganz begreiflich. Vermutlich bin ich einfach nur froh jemanden aus der uns bekannten Welt zu erblicken, eine Verbindung nach draußen. Jemanden, welcher sich nicht umgehend auf uns stürzt, um uns grundlos zu töten. Wir erklären den beiden was es mit dem Leuchten auf sich hatte und erfahren, dass auch sie unbeabsichtigt an diesen Ort gelangt sind. „Wie lange seid ihr schon hier“, frage Ava interessiert. „Kein Tag. Nacht ist. Immer Nacht ist.“ Tatsächlich scheinen sie sich schon eine ganze Weile im Zwielichtreich durchzuschlagen, was uns Mut macht. Zwar haben sie in keiner Weise begriffen was hier vor sich geht, trotzdem sind ihre Erfahrungen für uns hilfreich. Sie berichten vom Turm, an welchem es anscheinend Tiere gibt. Dort jagen die beiden Vögel, um sich zu ernähren. Wie auch wir bereits festgestellt haben lauern überall Gefahren. Sie warnen uns vor der Eule, wo sie auftauche sein man nicht sicher. Einen Ausweg haben sie aber auch noch nicht gefunden. Das Problem, vor welchem wir nun stehen, einen sicheren Unterschlupf zu finden, haben sie auf originelle Weise gelöst. Die beiden können unter Wasser schlafen und im Fluss scheinen sie nicht aufgefunden zu werden. Merkwürdigerweise erwachen sie, obwohl sie stetig von der Strömung abgetrieben werden, immer an den selben Orten. Als würde der Fluss im Kreis fließen. Leider hilft uns das nicht weiter. Ava kann sich zwar in einen Fisch oder ähnliches verwandeln und Eskel ist in der Lage über mehrere Stunden seinen Atem anhalten, für Magni, Grunda und mich bietet das Wasser jedoch nicht die Möglichkeit uns zu verstecken. Zu ärgerlich, dass ich über keine Möglichkeit verfüge uns über längere Zeit auf magische Weise zu verbergen. In der Narlmark waren wir zu keiner Zeit auf derartige Vorsichtsmaßnahmen angewiesen. Als letzte und einmalige Möglichkeit habe ich eine Schriftrolle im Gepäck. Mit dieser ist es mir möglich eine Hütte zu beschwören, welche mit allerlei Schutzmechanismen ausgestattet ist. Diese mag sicher sein, aber kann uns keineswegs verstecken. Eine große Hütte mitten dieses Waldes wird unsere Widersacher anziehen wie ein Magnet. Als ich vorsichtig auf diese Option zu sprechen kommen, zeigen meine Gefährten weit weniger Bedenken. Sie sehen darin den idealen Unterschlupf und überreden mich letztlich eben jene Hütte herbeizuzaubern.
Als ich das Innere betrete, verfliegen angesichts der Annehmlichkeit einfacher Betten auch meine Bedenken. Wir teilen Nachtwachen ein und anschließend lege ich mich umgehend zur Ruhe. Nach wenigen Stunden werde ich von Magni geweckt. Er und Ava berichten davon den Ruf einer Eule gehört zu haben, ansonsten sei es still geblieben. Ich beziehe meinen Wachposten gemeinsam mit Eskel und spähe nach draußen. Es vergeht einige Zeit, doch dann geschieht etwas Merkwürdiges. Zwischen den Bäumen erscheint eine Kreatur, auf zwei Beinen mit Hufen gehend, muskuläre Arme wie ein Mann, den Kopf eines Hirsches, welcher von einem imposanten Geweih geschmückt wird. Das muss er sein, der König des Waldes. Doch sieht er nicht aus wie die Statue unter der Burg. Eskel und ich starren angespannt nach draußen. In einiger Entfernung zur Hütte bleibt die Kreatur stehen und blickt ruhig und ohne sich zu bewegen auf unseren Unterschlupf. Sie wendet den Blick nicht ab, ihre Augen scheinen blau zu leuchten, was ihnen etwas Durchdringendes verleiht. Als könne er sehen was hier, im Innern, vor sich geht. Eskel und ich mutmaßen, dass es sich um ein Eidolon handelt, ein Externar, welcher von einem Paktmagier herbeigerufen wird und diesem dient. Wir sind unentschlossen, was sollen wir tun? Zunächst wecken wir Magni. Als auch er die Hirschkreatur einige Minuten beobachtet hat, entgegnet er nur trocken. „Solange er tatenlos herumsteht, sehe ich keinen Grund irgendetwas zu unternehmen. Ich lege mich wieder schlafen.“
Tatsächlich passiert lange Zeit nichts, doch schließlich erscheint eine zweite, uns bekannte Gestalt. „Lucretia?“, flüstert Eskel ungläubig. Wir sehen uns irritiert an. So hätten wir uns ein Wiedersehen nicht vorgestellt. Zwar hatten wir es bereits geahnt, aber erst jetzt haben wir die Gewissheit. Lucretia scheint sich gegen uns zu stellen. Nicht viel erinnert an die Frau, welche uns einst um einen Gefallen bat. Diese Lucretia ist deutlich selbstbewusster und strahlt Erhabenheit und Macht aus. Doch was führt sie im Schilde? Kurz nach ihrem Eintreffen erscheinen erst einige wenige, dann immer mehr der kleinen Spriggan. Mit wenigen knappen Gesten werden sie von Lucretia angewiesen unsere Hütte ebenfalls in einigem Abstand zu umstellen. Schon nach wenigen Minuten haben sich zwei bis drei Dutzend von ihnen eingefunden. Auch sie starren regungslos auf die Hütte und machen keine Anstalten uns anzugreifen. Während ich mich noch mit Eskel leise berate, taucht eine weitere Gestalt auf. Der glatzköpfige Mann hat elfenähnliche Züge, seine Haut ist grau und er trägt edle dunkle Gewänder. Eskel weiß, dass es sich um einen Svartalfar handelt. Sie seien ebenfalls Feenwesen und gefürchtete Schwertkämpfer. Er bezieht neben Lucretia Stellung und wartet auch geduldig auf Anweisungen. Somit sind wir nun von Lucretia, dem ‚König des Waldes‘, dem Svartalfar und einer Vielzahl von Spriggan umstellt, welche entweder auf weitere Unterstützung warten oder davon ausgehen, dass wir mit ihnen Kontakt aufnehmen werden. Weshalb sollten sie sonst mit einem Angriff warten? Nun wecken wir unsere Freunde und berichten ihnen von unserer bedrohlichen und absonderlichen Lage. Ava und ich ziehen uns unverzüglich in eine ruhige Ecke zurück und bereiten unsere Zauber vor. Die anderen beraten in der Zwischenzeit, wie nun am geschicktesten vorzugehen sei. Während Magni und Eskel einen direkten Kampf scheinbar in Erwägung ziehen, hält Grunda dies für eine völlig abwegige Idee. Ava und ich bestätigen sie in dieser Einschätzung. Wir können es nicht mit einer derartigen Anzahl von Spriggan aufnehmen. Zudem ist davon auszugehen, dass Lucretia und die zwei Gestalten in ihrer Begleitung mächtige Gegner sind. Doch wie können wir fliehen? Ich kann mich gemeinsam mit zweien ein ganzes Stück weit weg teleportieren, der Avadler kann versuchen auf dem Luftweg zu entkommen und die letzte Person könnte ich verzaubern, sodass diese ebenfalls davonfliegen könnte. Mittels Unsichtbarkeit erhöhten sich die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Flucht. Doch sicher ist dies alles nicht, denn wir wissen nichts über die Kräfte Lucretias und ihrer beiden Begleiter. Bisher war ihr Handeln nicht berechenbar, sie könnte unseren Plan durchkreuzen. Doch ich habe noch eine Idee, einen mächtigen Zauber, welchen ich in Zusammenarbeit mit Ava wirken kann und der unsere Feinde erheblich schwächen sollte. Es ist nicht ohne Risiko, aber es scheint erfolgsversprechender als ein Angriff zu sein. Doch was spricht dagegen vorerst Kontakt mit Lucretia aufzunehmen? Wollte sie uns umgehend aus dem Weg schaffen, wäre sie bereits zum Angriff übergegangen. Nach kurzen Beratungen nehme ich also mit einem Zauber Kontakt mit ihr auf, sodass die Umstehenden Kreaturen unserem Gespräch nicht lauschen können.
„Guten Abend Lucretia“, ihre sich aufhellende Mimik verrät, dass sie meine Worte vernimmt, „wir sind freudig überrascht Sie nach einer so langen Zeit der Ungewissheit wohlauf wieder zu sehen. Loy wird von solchen Nachrichten ebenfalls hocherfreut sein.“ Bei der Erwähnung ihres Mannes zuckt sie merklich zusammen und ihr Blick wird für den Bruchteil einer Sekunde finster. Sofort lächelt sie aber wieder freundlich, als wolle sie sich nichts anmerken lassen. „Faquarl. Es freut mich ebenfalls von euch zu hören. Leider muss ich euch jedoch enttäuschen, der gute Loy wird eure Berichte wohl nicht entgegennehmen können.“ Wie auch schon in allen Gesprächen zuvor, wird uns auch nun wieder direkt mit unserem Tode gedroht. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung scheint schon jetzt zunichte. Aber irgendeinen Grund muss es geben dafür, dass wir noch nicht angegriffen wurden. Somit frage ich weiter, versuche herauszufinden was seit unserer letzten Begegnung, nein eigentlich schon davor, geschehen ist. Und natürlich welche Ziele Lucretia nun verfolgt. Zwar betont sie des Öfteren Gespräche mit uns über Nebensächlichkeiten nicht führen zu wollen und reagiert gereizt, wenn wir ihre Vergangenheit in Rezbinnen erwähnen, trotzdem gibt sie so Manches preis. Vermutlich aufgrund unserer aussichtslosen Lage, eine Jägerin, welche mit ihrer Beute spielt. Wie bereits erwartet war die Gründung Rezbinnens lediglich ein Vorwand dafür das mysteriöse Gewölbe unter der alten Burg genauer zu erkunden und einen Weg ins Zwielichtreich zu finden. Seit ihre dies letztes Jahr mit Hilfe unserer ‚naiven‘ Freunde gelang, verfolgt sie nur ein Ziel: Die Ausdehnung des Zwielichtreiches. Rezbinnen, die Narlmark, ganz Rivien ist dabei ein in Kauf zu nehmender Kollateralschaden. Sie hegt keinen Hass gegen uns, wir haben uns lediglich am falschen Fleck der Landkarte angesiedelt. Als ich die Sprache erneut auf ihren Mann bringe, macht sie deutlich, dass sie auch seinen Tod billigend in Kauf nehmen wird. Doch ich habe ihre erste Reaktion noch gut vor Augen. Gleichgültig ist es ihr sicherlich nicht, auch wenn sie sich dies einredet. Sie hat Schuldgefühle, davon gehe ich fest aus. Doch meine Freunde halten mich davon ab das Thema weiter zu vertiefen. Sie hoffen noch immer auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. Somit versuchen wir auch ihr zu erklären, dass wir keine Feinde wären, uns lediglich hierher verirrt hätte und daran interessiert sind einen Weg zurück zu finden. Doch auch sie weiß natürlich, dass wir Narlgaard und ganz Rivien mit allen Kräften verteidigen werden und betont, dass es für uns keinen Ausweg gäbe. Doch dann unterbreitet sie doch ein Angebot, welches jedoch ich nicht als solches bezeichnen würde. Wenn wir uns kampflos ergeben würden, ja dann würden wir vielleicht verschon und dürften ihrer Schwester Roswen dienen. Na das klingt ja mal nach einem verlockenden Vorschlag! Kampflos ergeben, um dann eventuell doch noch umgebracht zu werden oder in ewiger Gefangenschaft einer grausamen Herrscherin dabei zu helfen Narlgaard von der Landkarte zu radieren. Zu meinem Entsetzen denkt Eskel tatsächlich kurz darüber nach, ob diese Option zu bevorzugen sei. Eventuell weil sein klägliches Menschenleben nur noch wenige Jahrzehnte überdauern würde, wohingegen ich … Es kommt nicht in Frage und glücklicherweise können wir ihm diesen Gedanken auch schnell wieder austreiben, indem ich ihm anschaulich erkläre, dass eine Flucht aus einem magisch gesicherten Gefängnis nicht lediglich unwahrscheinlich, sondern gänzlich unmöglich ist. Über Lucretias Schwester Roswen, die Frau, welches sich Königin des Zwielichtreiches nennt, finden wir leider nicht viel heraus. Ziehen die beiden an einem Strang oder sind sie Konkurrentinnen? Diese Frage muss vorerst unbeantwortet bleiben, denn wir befürchten, dass nicht mehr viel Zeit bleibt unsere Flucht vorzubereiten. Konzentriert gehen wir noch einmal den von mir entwickelten Plan im Detail durch, dann wirken wir einige Zauber, welche uns die Flucht ermöglichen sollen und ich gebe Ava ein Zeichen.
Die Halblingsdame, welche bereits unsichtbar und in Gestalt eines Adlers ist, beschwört ihre Flammenkugel auf dem Dach der Hütte. Lucretia und die anderen Belagerer haben nur den Bruchteil einer Sekunde sich darüber zu wundern. Dann schießt eine Flammenfontäne, gespeist durch Avas Zauber, in die Höhe. Der Wald wird in orange-rotes Licht getaucht und ein Feuerregen geht auf unsere Gegner nieder. Wir hören entsetzte Ausrufe und die panischen Schreie brennender Spriggan. Noch bevor die letzten Glutbrocken zu Boden gefallen sind wiederhole ich den Zauber. Ein zweites Mal schießt eine Fontäne aus Feuer, welche die Baumkronen überragt, aus Avas Flammenkugel. Selbst das Innere der Hütte wird es für ein Moment hell erleuchtet, als das Licht durch Türspalt und Gucklöcher dringt. Viele der Spriggan sind nichts mehr als ein verkohltes Fleisch, die restlichen brennen lichterloh und alle unsere Gegner scheinen fürs erste durch das grelle Licht blind zu sein. Lucretia tastet hinter sich, berührt die Hirschkreatur, ihr Eidolon und sofort wachsen dieser Schwingen aus den Schulterblättern. Mit einem Satz springt er auf die Hütte zu und landet auf dem Dach. Der ‚König des Waldes‘ scheint als einziger noch über sein Augenlicht zu verfügen. Als ich mich nach meinen Freunden umsehe, Grunda und Magni am Arm packe, um mich gemeinsam mit ihnen auf die andere Seite des Flusses zu teleportieren, blicke ich in erschrockene Gesichter. Auch sie scheinen von dem gewaltigen Inferno überrascht zu sein. Ich wirke den Zauber uns sehe gerade noch, wie eine grässliche Kreatur von Lucretia beschworen wird. Ausgemergelter, drahtiger Körper, schwarze, ledrige, von Schleim bedeckte Haut und das hämische Grinsen offenbart lange, spitze Zähne. Im nächsten Moment finden wir uns in einigen hundert Metern Entfernung wieder. Die Schreie verbrennender Spriggan hören wir nur noch aus weiter Ferne.
Vierundzwanzigste Sitzung am Sonntag, den 29. Oktober in Frankfurt.
Mit Tobi, Lena, Dominik, Lucas, Ilka und mir.